21. Februar 1969: Es wird wieder mehr verhaftet
21.2.2019, 08:54 UhrDie massierte Zufälligkeit derartiger Verlautbarungen während der letzten Jahre ließ bei der erschrockenen Öffentlichkeit den Eindruck entstehen, in der Bundesrepublik werde zu wenig verhaftet. In seltener Einmütigkeit wird das Gesetz zur Änderung des Strafprozeßrechtes, das am 1. April 1965 – also vor rund vier Jahren – in Kraft trat, und das einen ersten bescheidenen Beitrag zur Liberalisierung und Modernisierung des Strafrechtes darstellte, für die vergebliche Rechtsunsicherheit verantwortlich gemacht.
Die emotionelle Reaktion der Bürgerschaft rief alsbald die Vertreter einer „knochenharten“ Justiz auf den Plan und „bereicherte“ die Strafrechtsdiskussion um den Vorschlag einer „Vorbeugehaft“, die es ermöglichen soll, Personen zur Vorbeugung von Straftaten zu verhaften. Tatsächlich würde eine Vorbeugehaft, auch wenn man ihr einen politischen Hintergrund nicht unterstellt, bedeuten, daß die mit der Strafprozeßrechtsänderung begonnene liberale „Durchforstung“ des deutschen Strafrechts vorzeitig beendet und daß erneut pragmatische Überlegungen über das grundgesetzlich geschützte Recht des Bürgers auf persönliche Freiheit gestellt würden.
Statistische Untersuchungen
Zwingt die gegenwärtige Rechtspraxis und die Entwicklung der Kriminalität zu einschneidenden gesetzgeberischen Maßnahmen? Und brachte die Strafprozeßrechtsänderung einen deutlichen Rückgang der Untersuchungshaftfälle? Statistische Untersuchungen der „Nürnberger Nachrichten“ ergaben:
Die durchschnittliche Belegung der Untersuchungshaftanstalt Nürnberg im Vorjahr 1968 entspricht mit 256 U-Häftlingen fast genau der Zahl von 1964, also der vor dem Inkrafttreten der Strafprozeßrechtsänderung. Die durchschnittliche U-Haft-Dauer hat sich seit 1964 bis 1968 kontinuierlich von 23,2 Tage auf 28,4 Tage, das heißt um rund ein Viertel, erhöht. Der Rückgang der jährlichen Durchgangsfrequenz in der U-Haftanstalt von 4053 Häftlingen im Jahr 1964 auf 3.653 im Jahr 1968 liegt wesentlich unter der um 13,2 v. H. rückläufigen Entwicklung der Kriminalität gegenüber dem Vergleichsjahr 1964. Im Jahr 1968 wurde demnach relativ mehr verhaftet.
Die fast lineare Minderung der Aufklärungsquote von 74,8 v. H. der polizeikundig gewordenen Kriminalfälle im Jahre 1964 auf 61,8 v. H. im Vorjahr läßt keinen Zusammenhang mit der Strafprozeßrechtsänderung sichtlich werden. Starke Rückgänge der Aufklärungsquoten waren erstmals im Jahr 1967 um 4,3 v. H. und im Vorjahr um 7,4 v. H. zu verzeichnen. Der Rückschlag der polizeilichen Aufklärungsarbeit hat demnach keine prozeßrechtlichen, sondern allein kriminalogische Ursachen.
Die Verminderung der U-Haft-Gründe durch die Strafprozeßrechtsänderung führte zu keinem Ansteigen der Gesamtkriminalität. Die Entwicklung der Kriminalität war vielmehr rückläufig. Waren 1964 noch 24.197 Straftaten polizeikundig, so wurden 1968 nur 21.003 Taten registriert. Die Zahlenwerte der Nürnberger Untersuchungshaftanstalt sind für Bayern weitgehend repräsentativ. In den Zahlen der Untersuchungshäftlinge sind keine Polizeigefangenen enthalten.
Kripo-Chef Heinrich Helldörfer, der sich selbst als erklärter Gegner einer Vorbeugehaft bezeichnet, meint, daß die Strafprozeßrechtsbestimmungen zur Verhütung weiterer Straftaten für potentielle Rückfalltäter „spezifiziert“ werden sollten. Das gelte besonders für die Serien- und Rückfalltäter, deren krimineller Lebenslauf mit hoher Wahrscheinlichkeit auf neue Rechtsbrüche schließen lasse. Helldörfer argumentierte: „Rund 34 v. H. aller Nürnberger Einbrecher sind einschlägig vorbestraft, 20 bis 25 v. H. sind als potentielle Rückfall- und Wiederholungstäter zu bezeichnen.“
Ob eine entsprechende präventive Verschärfung des Prozeßrechtes zu einer Besserung der potentiellen Täter führen würde, bezweifelte auch der Kriminalfachmann angesichts des trostlosen Zustandes, in dem sich das deutsche Strafanstaltswesen befindet.
Denn Übereinstimmung besteht darüber, daß es sich bei dem Kreis der Hangtäter im Regelfall um psychisch abnorme Persönlichkeiten handelt. Der Kriminaloberrat, der ausdrücklich betont, pragmatische Überlegungen dürften kein Anlaß für eine „Entliberalisierung“ des Strafprozeßrechtes sein, ließ die Frage offen, ob eine vorbeugende Verwahrung labiler Täter in Haftanstalten zu einer nachhaltigen Konsolidierung der allgemeinen Rechtssicherheit führen würde.
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