27. Januar 1969: Ein Hauch von Broadway in der Oper
27.1.2019, 07:00 UhrUnd dann kommt wieder einmal eine solche glitzernde Blume der asphaltfarbigen Broadway-Romantik nach Nürnberg, verführerisch duftend, hinreißend schillernd wie kaum eine hier zuvor. Doch was steht auf dem Programm? Musikalische Komödie. Die Begriffsverwirrung ist komplett.
Zweifellos würde man trotzdem nicht anstehen, Jerry Hermans "Dolly" als ein Musical von reinstem Wasser zu bezeichnen. Eine reizvolle literarische Vorlage – Thornton Wilders "Heiratsvermittlerin", diese wieder Nestroys "Jux" entsprungen – umfassoniert von Michael Stewart zu einem funkensprühenden Libretto, wieder zurückübersetzt von dem bewundernswert wendigen "Fair Lady"-Verdeutscher Robert Gilbert; ein zwischen New York und dem Landstädtchen Yonkers effektvoll hin und her pendelndes Szenarium, das die Bühne in einem Karussell der optischen Opulenz rotieren läßt; dazu die treibende Kraft perfekt aufschießender Schlagerraketen, die selbst da zünden, wo sie traditionelle musikalische Basis kaum verlassen.
Absage an die Schablone
Aber was soll die Frage, wieweit hier Neues oder Althergebrachtes im Spiel ist, wo und inwiefern dabei die Grenzen zur Show, zur Revue einerseits, zum Schauspiel, musikalischen Lustspiel, andererseits zur Operette gar überschritten werden. Man könnte dem bis ins einzelne nachgehen, könnte zeigen, daß so gar viel Neues, noch nie Dagewesenes hinter dem Wundernamen Musical gar nicht steckt. Aber müßig wär‘s! Denn man vergäße darüber das einzig wirklich Neue an der überseeischen Zauberformel, das sozusagen begeisternd negative Neue: die radikale Absage an jede Art von Schablone.
Was mit diesem Negieren einer erstarrten Tradition und nur des erstarrten Teils davon zu erreichen ist, das machte der junge Gastregisseur Dick Price drei bestechende Stunden lang pausenlos vor. Fast amerikanische Verhältnisse schuf er auf der geradezu technische Purzelbäume schlagenden Nürnberger Bühne, einen prickelnden Hauch vom Broadway brachte der Wirbelwind aus USA an den Nürnberger Richard-Wagner-Platz.
Ihm gelang es, auf dem großen technischen Apparat des Opernhauses so virtuos zu spielen, daß aus der Zwölf-Bilder-Folge ein müheloses Ineinanderfließen von großer Szene und Dialog-Stimmung, von berauschenden Lichteffekten und Spotlight-Intimität wurde. Dazu rückte die Bühne manchmal bis in den Zuschauerraum hinein durch einen noch vor dem Orchesterraum aufgestelzten Laufsteg, auf dem sich die Modenschau dieser "Dolly"-Produktion zum Greifen nah produzierte.
Diese Pracht der Kostümierung lohnte allerdings wahrlich die Nah-Sicht. Margret Kaulbach umkleidete die amerikanische Jahrhundertwende mit einer berückenden Vielfalt von Figurinen, mit genau abgestimmten Tönungen von Rot bis Lila. Der kulinarische Genuß dieses Farbenfestes wurde nur noch von der Stilpräzision der Bühnenbilder übertroffen, mit denen Walter Perdacher den Gegensatz zwischen der prachtvoll weitläufigen 14. Straße in New York und der bretternen Verschachtelung des Heu- und Futtermittelladens beschwor. Zwar manchmal, wie etwa bei der gemütvoll dampfenden Lokomotive und auch einigem anderen fahrenden Utensil, schien die vertraute Operette recht nahe. Doch Dick Price kam es gar nicht darauf an, da ängstlich Abstand zu wahren. Auch seine Choreographie nahm die Mittel überall her, sie bezog Elemente des volkstümlichen Reigens, des buffonesken Chargierens mit ein, sparte andererseits die große Ballettszene fast ganz aus.
Doch war das alles in soviel lebendige Beziehung zueinander und zum Stück gesetzt, wurde mit einer graziösen Stilisierung überzogen, daß es wie neu wirkte. Und so wurde etwa gerade die Bahnhofsszene zum begeisternden Beispiel eines szenischen Aufbaus, der aus vielerlei Bestandteilen, aus Sprechtheater, Gesang, tänzerischer Gruppierung einen unverwechselbaren Eindruck zusammenfügt.
Verwirklichung der Sonderform
Diese bis auf die letzte Handbewegung ausgefeilten, atemberaubend schwungvollen Gruppenszenen, serviert von einem genau abgestimmten Charakter-Ensemble, ersetzen die große Ballett-Figuration, die ohnehin nicht in dieses Inszenierungs-Konzept paßten. Denn bei Dick Price ist das Musical viel mehr eine sozusagen kammermusikalische Form, bestehend aus lauter Einzelzügen, die bald turbulent ineinander verschränkt werden, bald für sich als weiche, ja leise Töne dastehen. Die Wildersche Vorlage gewinnt an diesen Stellen wieder ihre versöhnliche Menschlichkeit, ihre verhaltene Wärme – womit man doch wieder bei der musikalischen Komödie wäre.
Nicht daß Dick Price diese Sonderform des zwischen gagfroher Heiterkeit und leiser Besinnlichkeit tanzenden Unterhaltungstheaters wollte, war die große Überraschung der Nürnberger "Dolly"-Premiere, sondern die Tatsache, daß er sie hier auch verwirklichen konnte.
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