„Der Verfassungsschutz konnte sich seine Opfer selbst aussuchen“
29.1.2012, 16:00 UhrEs ist nicht vorbei. Auch nach 40 Jahren nicht. Auch nicht im verdienten Vorruhestand. Helmut Leonhardt, der Ende Juli 2011 in Altdorf seine letzte Unterrichtsstunde als Hauptschullehrer gehalten hat, wartet auch als Pensionist noch darauf, dass er so etwas wie Rehabilitation durch den Staat erfährt. „Es müsste sich einer hinstellen und sagen: Das war Unrecht, was wir damals getan haben.“
Es klingt nicht verbittert, wenn der 63-Jährige eine solche Entschuldigung einfordert. Eher selbstbewusst. Helmut Leonhardt ist ein Kämpfer. Nicht zuletzt die Erfahrungen mit dem Radikalenerlass haben ihn dazu gemacht.
In Kurzfassung ist es folgende Geschichte: Anfang der 1970er Jahre studiert Leonhardt für das Lehramt an Volksschulen, wie es damals noch heißt. Seit 1974 ist er Mitglied in der SPD. Nach bestandenem ersten Examen verweigert ihm die Regierung von Mittelfranken 1975 wegen Zweifeln an seiner Verfassungstreue die Fortsetzung der Ausbildung. Man wirft ihm die Mitgliedschaft im Sozialistischen Hochschulbund (SHB) vor. Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof erstreitet sich Leonhardt schließlich die Übernahme in den Vorbereitungsdienst. Im Gegensatz zu Verfassungsschutz und Regierung können die Richter nämlich nicht sehen, wo der SHB beziehungsweise Leonhardt selbst im Widerspruch zum Grundgesetz stehen sollen.
Drei Jahre später besteht der junge Mann mit der Gesamtnote gut sein zweites Examen. Eigentlich müsste er nun Beamter auf Probe werden. Aber der Freistaat verweigert es ihm. Er mag immer noch nicht an Leonhardts Verfassungstreue glauben. Ehemalige Schüler, Eltern, SPD-Politiker setzen sich für ihn ein. Erst nach vier Jahren hartnäckigen Kampfes um seine berufliche Existenz lässt sich der oberste Dienstherr erweichen: Leonhardt darf verbeamteter Lehrer werden.
Stundenlange Verhöre
Aus der heutigen Distanz klingt eine solche Radikalenerlass-Geschichte harmlos. Doch stundenlange Gesinnungsverhöre durch Regierungsbeamte, wie sie Leonhardt über sich ergehen lassen musste, gingen an die Substanz und machten Angst. „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, hatte der erste sozialdemokratische Bundeskanzler, Willy Brandt, in seiner Regierungserklärung 1969 noch gefordert. Und plötzlich sahen sich wenige Jahre später reihenweise junge Leute, die dieser Aufforderung mit meist linkem Selbstverständnis und reger Beteiligung am öffentlichen Diskurs nachgekommen waren, tiefem Misstrauen und heftigen Ausgrenzungsversuchen staatlicher Instanzen ausgesetzt.
Oft genug überschritten die Gesinnungsprüfer die Grenze zur Willkür — und zum Absurden. Die Nürnbergerin Angela Rauscher sollte nicht Hauptschullehrerin werden, weil sie auf der Liste „Gewerkschaftliche Orientierung“ für das Studentenparlament der Uni Erlangen-Nürnberg kandidiert hatte, mit zwei Reisen in die DDR aufgefallen und mit einem DKP-Mitglied verheiratet war. Dass sie selbst bei den Jungdemokraten, der FDP-Nachwuchsorganisation, aktiv war, beeindruckte die Verfassungshüter zunächst gar nicht. Erst nach einem halben Jahr juristischer und öffentlicher Auseinandersetzung lenkte die Regierung ein.
Bei Hans-Peter Haas reichte damals das Engagement bei der DFG-VK (Deutschen Friedensgesellschaft — Vereinigte Kriegsdienstgegner) und die Beschäftigung mit der Frage des gewaltfreien Widerstands bei Seminaren der Evangelischen und der Katholischen Studentengemeinde zum Verfassungsfeind-Verdacht. Noch 37 Jahre danach erinnert er sich lebhaft
an die tiefe Verunsicherung, die das monatelange Ringen um seine berufliche Existenz auslöste. Er fühlte sich als engagierter Demokrat und musste plötzlich feststellen, dass der Staat recht willkürlich die Grenzen der Demokratie festlegen wollte.
„Wir sind aus purer Gesinnungs-Prophylaxe belästigt worden“, sagt Haas. Schließlich durfte er doch Lehrer werden. Dann stellvertretender Schulleiter und am Ende sogar viele Jahre lang Rektor der Pestalozzi-Schule in Fürth. Seit ein paar Monaten ist der 65-Jährige im Ruhestand.
Alles vergeben? Nein. Haas ärgert sich immer noch, „dass sich der Verfassungsschutz seine Opfer damals selbst aussuchen konnte“. Woran sich leider nichts geändert habe. Die Schnüffeleien und Beobachtungen, die sich Bundestagsabgeordnete der Linken gefallen lassen müssen, empören Haas genauso wie der Verfassungsschutz-Tiefschlaf bei der jüngst aufgeflogenen Neonazi-Mordserie.
Die Richter hatten Zeit
„Ich glaube nach wie vor, dass ich überwacht werde“, gesteht da seelenruhig der Vierte in der Runde. Friedrich Sendelbecks berufliche Pläne sind vom Radikalenerlass nicht nur vorübergehend durchkreuzt worden. Er wollte Gymnasiallehrer werden und wurde 1977 wegen einer einstigen Kandidatur auf der Studentenliste des DKP-nahen MSB Spartakus nicht zum Referendariat zugelassen. Er klagte beim Verwaltungsgericht Ansbach. Nach sechs (!) Jahren bestätigten die Richter die Ablehnung. Dass er schließlich 1984 beim Arbeitsgericht ein Urteil erreichte, das ihm wenigstens die Einstellung als Angestellter gesichert hätte, nutzte nichts. Die geänderte Lehrerdienstordnung ließ dies nun nicht mehr zu.
Sendelbeck wurde Gewerkschaftssekretär und — seit Mitte der 1990er Jahre — als Teilzeitkraft doch noch Sozialhilfelehrer an einer Berufsfachschule. Bei der Rente wird er die Folgen des Radikalenerlasses noch mal schmerzlich spüren. „Da habe ich irrsinnige Verluste.“ Das ist der ungerechte Preis, den er persönlich zahlen muss. Den Preis, den die Gesellschaft insgesamt zu zahlen hatte, beklagt Sendelbeck viel mehr. „Demokratie lebt davon, dass wir unterschiedliche Meinungen haben und darüber streiten.“ Weit über die relativ kurze Zeit seiner Wirksamkeit hinaus habe der Radikalenerlass aber vielen jungen Menschen die Courage für einen solchen Meinungsstreit geraubt.