"Es wird teuer – aber das Geld ist gut investiert"
22.2.2019, 20:44 UhrNZ: Herr Prof. Luther, wie beurteilen Sie den Bericht der Kohlekommission?
Matthias Luther: Die Frage ist zunächst, wie man diesen Bericht einordnet. Die von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission hat einen ganzen Katalog von Maßnahmen vorgeschlagen, um den Kohleausstieg in der Energieversorgung bis 2038 umzusetzen. Diese Maßnahmen müssen nun erst einmal auf ihre Umsetzbarkeit geprüft werden. Anschließend werden wir dann auch in der Lage sein, die Kosten des Ausstiegs genauer zu beziffern. Darüber hinaus müssen wir uns die europäischen Aspekte des Ausstiegs im Detail ansehen – sowohl technisch als auch wirtschaftlich und umweltpolitisch.
NZ: Wie teuer könnte der Kohleausstieg werden?
Luther: Der Bericht nennt Kosten von mindestens zwei Milliarden Euro pro Jahr, die über 25 Jahre auf die Stromverbraucher zukommen. Ich bin der Meinung, dass dies längst nicht alle Kosten sind. Insgesamt muss man differenzieren, welche Kosten auf die Energiewirtschaft und welche auf die Volkswirtschaft entfallen. Die Frage zu den Gesamtkosten des geplanten Kohleausstiegs kann momentan niemand objektiv beantworten. Es kommen sicher auch noch Folgekosten hinzu, etwa durch einen erhöhten Speicherbedarf oder für zusätzliche Maßnahmen im Stromnetz. Klar ist aber auch, dass über den Ausstieg nicht von einem Tag auf den anderen entschieden wird. Da hat die Politik sicher etwas aus dem Kernenergieausstieg gelernt. Wir haben jetzt 19 Jahre Zeit. Aber die Zeit vergeht schnell.
NZ: Neben einer starken Erhöhung der erneuerbaren Energien wird die Kohle teilweise auch durch Gas ersetzt. Welche Vorteile und Nachteile haben Gaskraftwerke im Vergleich zu Kohlekraftwerken?
Luther: Bei der Kohle haben wir einen CO2-Ausstoß von rund einem Kilogramm pro Kilowattstunde, bei Gas sind es circa 0,4 Kilo. Die hohe Flexibilität von Gaskraftwerken ist natürlich ein weiterer Vorteil, Gaskraftwerke sind viel schneller regelbar, also eine gute Ergänzung zu den stark schwankenden erneuerbaren Energien. Und der Wirkungsgrad ist bei einem Gaskraftwerk deutlich höher, knapp 60 Prozent, ein gutes Kohlekraftwerk hat etwa 45 Prozent. Auch die spezifischen Investitionskosten sind geringer als bei Kohle, fast die Hälfte. Aber der Brennstoff ist eben teurer. In einer Studie des Kölner Energiewirtschaftlichen Instituts (EWI) wurde berechnet, dass die Kosten für einen Kohleausstieg im Zeitraum von 2025 bis 2045 für den Verbraucher Zusatzkosten von 0,5 Cent pro Kilowattstunde ausmachen. Die Frage ist dabei, ob da schon alle Kosten drin sind, und das glaube ich nicht. Der aktuelle Strompreis liegt bei 30 Cent pro Kilowattstunde. Aber wir haben ja den Ausbau des Stromnetzes noch gar nicht bezahlt, weil der bis heute noch nicht realisiert ist.
NZ: Der Netzausbau ist stark verzögert, wird es deshalb eng mit dem Kohleausstieg?
Luther: Der ursprünglich geplante Netzausbau mit der Fertigstellung der großen Gleichstromverbindungen bis 2022 wird bis dahin definitiv nicht realisiert. Ich glaube auch nicht, dass es bis 2025 passieren wird. Es geht aber nicht ohne diese neuen Leitungen, die werden gebraucht. In unserer Bevölkerung gibt es aber eine starke Opposition gegen den Netzausbau, Großprojekte sind immer schwieriger umzusetzen. An der FAU erforschen wir derzeit in zwei Projekten auch, wie man künftig mehr Strom mit weniger Leitungen transportieren kann. Der Kohleausstieg macht in jedem Fall signifikante Systemveränderungen notwendig. Nach dem Bericht der Kohlekommission sollen zunächst bis 2022 Kraftwerke mit einer installierten Leistung von 12,5 Gigawatt stillgelegt werden. Das müssen wir uns erst einmal im Detail ansehen, denn es können aus meiner Sicht keine Kraftwerke sein, die momentan täglich am Netz sind. Wir haben aktuell noch 10 Gigawatt Kernenergie am Netz, die gehen auch bis 2022 raus. Wo soll dann die gesicherte Kraftwerksleistung herkommen? Das kann man auch mit dem Netz nicht retten.
NZ: Welche Auswirkungen hat das insgesamt für die Versorgungszuverlässigkeit in Deutschland?
Luther: Kraftwerk und Netz sind eine systemtechnische Einheit – und ein stabiles Netz braucht unter anderem auch gesicherte Kraftwerksleistung. Ab 2021 wird es durch die weitere Abschaltung der Kernkraftwerke und den verzögerten Netzausbau noch mal kritischer. Ich bin absolut kein Bedenkenträger, aber wir hatten schon in den vergangenen Jahren mehrfach kritische Situationen aufgrund fehlender Kraftwerksleistung im europäischen Stromverbund zu bewältigen. Und wenn es morgen zu einem Stromausfall kommt, dann wird der Kohleausstieg sicher noch einmal überdacht. Es muss einfach jedem klar sein, dass mit dem, was hier als erster Vorschlag auf dem Tisch liegt, unsere Versorgungssicherheit in keinster Weise eingeschränkt werden darf. Deswegen ist es so wichtig, den Bericht der Kommission erst einmal nüchtern und objektiv zu analysieren. Der Politik kann ich dabei nur nahelegen, sich vor den anstehenden Entscheidungen noch mal den einen oder anderen Rat bei den Ingenieuren zu holen.
NZ: Der Anteil der erneuerbaren Energien soll bis 2030 auf 65 Prozent steigen, aber die Schwankungen bei Wind und Sonne sind enorm. Der Netzausbau hakt, wie sieht es beim Thema Speicher aus?
Luther: Mit Speichern kann man sehr gut Schwankungen ausgleichen und überregionalen Leistungstransport einsparen. Zum Beispiel, indem man in der Nähe von großen Windparks Elektrolyse-Anlagen für "Power-to-Gas" einrichtet. Die Umwandlung von Strom zu Gas – und hier primär Wasserstoff – spielt in Zukunft eine Schlüsselrolle: Unsere Energieversorgung kann nur nachhaltig gesichert werden, wenn wir unser Gas künftig so weit wie möglich synthetisch erzeugen. Über die Elektrolyse macht man aus Strom Wasserstoff und Sauerstoff, den Wasserstoff kann man dann speichern oder transportieren. Oder mit CO2 in Methan umwandeln, Methan ist nichts anderes als Erdgas.
NZ: Die vieldiskutierte Frage nach Speichern ist also schon mit der Technik von heute lösbar?
Luther: Ja. Zum einen über Batteriesysteme als Kurzzeitspeicher. Und über Wasserstoff beziehungsweise Gas als Langzeitspeicher – die physikalischen Grundlagen hierzu sind seit Ende des 17. Jahrhunderts bekannt. Wir haben es bisher nur nicht gemacht, weil unsere Energieversorgung unter anderen Randbedingungen geplant und entwickelt wurde. In der Vergangenheit haben wir auf fossile Ressourcen und Kernenergie gesetzt. Wenn man Strom in Wasserstoff umwandelt, kann man den etwa durch eine Gasturbine schicken und hiermit ein Blockheizkraftwerk betreiben. Oder man nutzt den Wasserstoff in einer Brennstoffzelle im Pkw, dann hat man einen Gesamtwirkungsgrad von 38 Prozent – das ist nur etwas geringer als der Wirkungsgrad konventioneller Kraftwerke. Wenn ich allerdings Methan erzeuge und im Gaskraftwerk rückverstrome, komme ich nur auf einen Wirkungsgrad von etwa 20 Prozent. Aber bei erneuerbarer Energie aus Wind und Sonne kostet der Brennstoff ja nichts. Und das Erdgasnetz hat auch genug Speicherkapazität, um eine mehrwöchige Dunkelflaute ohne Strom aus Sonne und Wind zu überbrücken.
NZ: Ist das alles machbar bis 2038?
Luther: Bis ein Technologiewechsel wirtschaftlich darstellbar ist, dauert es je nach Technologie einige Jahre bis Jahrzehnte. Die Windenergie zum Beispiel hat – natürlich mit Subventionen – rund 20 Jahre gebraucht, bis die Anlagen zu den Kosten Strom erzeugen, wie es konventionelle Kraftwerke tun, mittlerweile teilweise sogar darunter. Die Energiewirtschaft hatte 1990 prophezeit, das wird nie was. Heute übernimmt die Windenergie eine gewichtige Rolle unserer Stromversorgung. Eine nachhaltige Energieversorgung können wir nur entwickeln, wenn wir Strom, Wärme und Mobilität über die Sektorenkopplung zusammenführen. Das Bewusstsein ist zweifellos bei vielen Experten vorhanden. Dennoch müssen wir unser Fachwissen noch mehr in einer besseren interdisziplinären Zusammenarbeit aufgehen lassen. Der Systemgedanke steht im Vordergrund – nicht nur in den elektrischen Netzen. Dann wird die Energiewende definitiv zum Erfolg.
NZ: Muss Deutschland nach dem Kohleausstieg mehr Strom aus dem Ausland importieren?
Luther: Wenn in Deutschland keine Kraftwerke zugebaut werden – ja. Weil wir gesicherte Leistung brauchen, die die Grundlast zuverlässig decken kann. Auch in 10 bis 20 Jahren werden wir immer Strom importieren müssen, wenn wir keine Sonne und keinen Wind haben. Und dann kommt halt auch Kohlestrom aus dem Ausland zum Einsatz. Wenn wir deutsche Kohle aus dem europäischen Strommarkt herausnehmen, werden die ausländischen Kohlekraftwerke mehr Strom produzieren. Womöglich auch ältere Anlagen als die, die wir demnächst abschalten wollen. Der Stromaustausch in Europa wird erheblich volatiler werden, Import und Export werden also stärker hin und her gehen. Aber unter dem Strich wird Deutschland nicht mehr so viel elektrische Energie exportieren wie heute.
NZ: Kriegen wir den Kohleausstieg hin, ohne Kostenexplosion für die Verbraucher?
Luther: Als Ingenieur kann ich nur sagen, natürlich kriegen wir das hin! Aber man muss die Kosten im Blick haben und den schrittweisen Ausstieg mit Augenmaß vollziehen. Beim Strompreis sind ja auch noch Verschiebungen möglich. Wir haben da aktuell über 50 Prozent – etwa 16 Cent – staatlich verordnete Sonderlasten drin, wie zum Beispiel die EEG-Zulage, Strom- und Ökosteuer und weitere. Die Frage ist natürlich auch, wie viel mehr man dem Bürger beim Strompreis noch zumuten kann. Es gibt also verschiedene Stellschrauben, an denen man drehen kann. Stemmen werden wir das, keine Frage. Strom wird künftig unbestritten teurer werden, aber ich glaube nicht, dass er zu einem Luxusgut wird, da müssen auch einkommensschwache Haushalte keine Angst haben.
NZ: Deutschland hat nur einen geringen Anteil am weltweiten CO2-Ausstoß, China erzeugt zehnmal so viel. Bringen unsere Bemühungen überhaupt etwas?
Luther: Deutschland hat derzeit einen Anteil an den weltweiten CO2-Emissionen von circa 2,5 Prozent, wovon etwa 40 Prozent auf die Stromversorgung entfallen. Insofern werden wir mit dem geplanten Kohleausstieg mittelfristig nicht die Welt retten, aber unsere Vorreiterrolle sollte durchaus richtungsweisend sein. Dann noch ein weiterer Gesichtspunkt, der mir sehr wichtig ist: Wer gibt uns eigentlich das Recht, die Ressourcen der Erde in einem relativ kleinen Zeitfenster seit Beginn der Industrialisierung zu verbrauchen? Wenn wir unserem Planeten etwas wegnehmen, müssen wir ihm auch etwas zurückgeben, aber sicher nicht in der Form von CO2. Die Welt schaut auf uns, und ich bin sehr zuversichtlich, dass man uns das auch nachmachen wird. Meinen Studierenden sage ich immer, das Ende des Ölzeitalters werdet ihr, oder auf jeden Fall eure Kinder, noch erleben. Deswegen ist es richtig, was wir machen. Wir tun etwas für die Nachhaltigkeit, und langfristig wird es sich rechnen. Wir vollziehen die Technologiewechsel auf mehreren Ebenen – und das im vollen Betrieb. Klar kostet das auch Geld, aber das Geld ist gut investiert.
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