Forscher wagen den Blick in die Zukunft
25.8.2015, 18:46 UhrIn China ist das Wahrsagen per Gesetz verboten, trotzdem boomt die Branche: Bevor Chinesen Aktien kaufen, konsultieren sie in vielen Fällen erst jemanden, der ihnen aus der Hand liest. Esoterik und Folklore, urteilt da manch moderner Europäer. Seit der Aufklärung gilt die Frage nach dem eigenen Schicksal als unwissenschaftlich. Zeitschriftenhoroskope dienen vielen Menschen eher als Unterhaltung denn als Lebensanleitung. Dabei hat die Erforschung der Zukunft auch in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert.
Noch im Mittelalter waren die mantischen Künste, also Praktiken zum Wahrsagen, in der westlichen Wissenschaftswelt fest etabliert. Bis heute geben die fünf „Wirtschaftsweisen“ jedes Jahr wieder ihre Prognosen über die Konjunktur ab. Auch sie liegen nicht immer richtig – akzeptiert ist das Gremium in der Öffentlichkeit trotzdem.
„Aussagen über die Zukunft sind eine menschheitsgeschichtliche Konstante“, sagt Rolf Scheuermann. Er ist wissenschaftlicher Koordinator des Internationalen Kollegs für Geisteswissenschaftliche Forschung (IKGF), das an der Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) seit 2009 Zukunftsprognosen unter die Lupen nimmt. „Das ist ein Gebiet, das manche Wissenschaftler ausblenden, weil sie es als nichtwissenschaftlich einordnen – und dabei seinen Stellenwert übersehen“, sagt Scheuermann. Sein Kollege Michael Lackner, Sinologieprofessor und Direktor des IKGF, spricht von „verworfenem Wissen“. Dabei sei die Frage nach der Zukunft meist auch damit verbunden, der eigenen Existenz einen Sinn zu geben. Vorhersagen haben eine Funktion für den Einzelnen und für ganze Gesellschaften. Es kommt aber immer darauf an, wie die Menschen auf die Prognosen reagieren.
Der Existenz einen Sinn geben
Gastwissenschaftler aus der ganzen Welt kommen ans FAU-Kolleg nach Erlangen, darunter Ethnologen, Sinologen, Soziologen, Religions- und Politikwissenschaftler. Gefördert durch ein Stipendium bleiben sie bis zu einem Jahr an der FAU, um rund um das Thema „Freiheit, Schicksal und Prognose“ zu forschen. Ganz wichtig ist dabei der Austausch: In Vorträgen und bei der wöchentlichen „Tea time“ diskutieren die Gäste über verschiedene Techniken, die Zukunft vorherzusagen. „Wir versuchen, eine Lerngemeinschaft zu leben“, sagt Scheuermann.
Das ist die Idee des Kollegs, das das Bundesministerium für Bildung und Forschung als eines von bundesweit zehn Käte-Hamburger-Kollegs fördert. Für viele Wissenschaftler bleibt im Alltag immer weniger Zeit für eigene Forschungsprojekte – ein Aufenthalt am IKGF ermöglicht eine Pause vom Lehralltag, während das Kolleg das Gehalt einer Vertretung bezahlt. Rund elf Millionen Euro Fördergelder gab es vom Bildungsministerium in den ersten sechs Jahren, gerade kam eine Zusage über knapp zehn Millionen Euro für weitere sechs Jahre. Damit ist das Kolleg das größte Drittmittelprojekt der Philosophischen Fakultät.
Bisher widmeten sich die Forscher in zahlreichen Publikationen vor allem zwei Schwerpunkten, zum einen Ostasien, zum anderen dem vormodernen Europa bis hinein ins europäische Mittelalter. Chinesische Orakelknochen, also mit Schriftzeichen versehene Tierknochen, aus dem 13. Jahrhundert vor Christus waren ebenso Thema wie das Volk der Hethiter, das die Zukunft aus den Bewegungen von Vögeln und aus Tierlebern ablas.
Verbrechen vorher verhindern
Bislang haben die Wissenschaftler vor allem Einzelfälle untersucht, auch Lehrbücher und Datenbanken sind schon entstanden. Langfristiges Ziel soll es aber sein, eine allgemein gültige Theorie zum Thema Prognose zu entwickeln – bislang gibt es so etwas noch nicht. Zu diesem Zweck plant Direktor Lackner, die Forschungsschwerpunkte zu erweitern, auch in die Gegenwart hinein. Themen, die in Frage kommen, gibt es genug. Die Idee, Verbrechen systematisch zu verhindern, bevor sie begangen werden, ist ein hochaktuelles Beispiel für Zukunftsvorhersagen. Prognosen, die Mediziner aussprechen, sind ebenfalls von Interesse. Auch die zahlreichen Vorhersagen zur wirtschaftlichen Entwicklung würde Lackner gerne untersuchen, allerdings konnte er dafür bislang noch keinen Forscher gewinnen: „Es ist sehr schwierig, einen Ökonomen zu finden, der die wirtschaftswissenschaftlichen Prognosen mit Distanz betrachten kann“, sagt er.
Andere kommen hingegen gerne: Knapp 100 Wissenschaftler waren seit der Gründung am IKGF zu Gast, darunter auch Forscher von renommierten Universitäten wie Harvard und Princeton. „Wir haben in den letzten sechs Jahren ziemlich an Gewicht gewonnen“, sagt Direktor Lackner. Das Erlanger Kolleg sei inzwischen international bekannt und etabliert. Besonders erfolgreich ist der Internetauftritt des Kollegs – eine der bestbesuchten aller FAU-Seiten. In Videos erklären Forscher ihre Projekte. Hier kann man beispielsweise sehen, wie der chinesische Professor Wenzhi Zhang das antike „Buch der Wandlungen“ praktisch anwendet: Mit Hilfe von Stäbchen und Hexagrammen versucht er, die Zukunft des IKGF selbst vorherzusagen. Denn bislang ist der Fortbestand der Einrichtung nur bis 2021 gesichert.
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