Sprachlose Kanzlerin
6.9.2016, 14:32 UhrSchnell, viel zu schnell, machte Merkel ihre eigene Flüchtlingspolitik als einzige Ursache für den rasanten Aufstieg der AfD aus. So als habe die deutsche und europäische Politik nicht schon längst reagiert: Die Balkanroute ist dicht, die Türkei hält Europa mit einem fragwürdigen Deal viele syrische Flüchtlinge vom Hals und in Deutschland wurden zum x-ten Mal die Asylbestimmungen verschärft.
Am Blutvergießen in Syrien, Eritrea und dem Südsudan hat das alles zwar nichts geändert. Die Menschen, die aus diesen Ländern fliehen, brauchen nach wie vor unsere Hilfe. Doch die Flüchtlingszahlen gehen seit Monaten zurück.
„Wir haben schon viel getan, wir nehmen Eure Ängste ernst“, hätte die Kanzlerin also den verunsicherten AfD-Wählern erklären können. Aber genau das hat die CDU-Chefin unterlassen, möglicherweise, weil es für sie immer noch einfacher ist, Versäumnisse in der Flüchtlingspolitik zuzugeben, als jene viel fataleren Verwerfungen, die 20 Jahre neoliberale Wirtschaftspolitik in Deutschland angerichtet haben.
Die Flüchtlingsfrage ist zwar mit 54 Prozent das wichtigste Kriterium für die AfD-Wähler gewesen, sich für diese Partei zu entscheiden. Doch bereits mit 48 Prozent folgt das Thema „soziale Gerechtigkeit“. Es gibt also durchaus ein Politikfeld, das die AfD-Anhänger ähnlich stark umtreibt wie der Zuzug der Flüchtlinge. Doch ausgerechnet zu diesem Thema blieben Merkel und die Zwischenrufer von der CSU aus München stumm.
Es zählen zwar längst nicht alle Sympathisanten der AfD zum abgehängten Prekariat. Ebenso wenig, wie alle AfD-Wähler Rassisten und Rechtsradikale sind, auch wenn es die in der AfD gibt — und zwar nicht zu knapp. Aber es gibt eben auch viele, die sich mit ihren Existenzsorgen und Abstiegsängsten nur noch von der AfD ernstgenommen fühlen.
Menschen, die spätestens seit Rot-Grün den Eindruck haben, dass der Staat für alles mögliche Geld übrig hat — nur nicht für sie: Nicht für den sozialen Wohnungsbau, nicht für öffentliche Schwimmbäder und erst recht nicht für Bedürftige, denen erst das Verfassungsgericht helfen musste, damit die Regierung endlich die Hartz-IV-Sätze anhebt. Menschen, die die Steuer-, Renten- und Arbeitsmarktreformen der vergangenen Jahre als das sehen, was sie oftmals tatsächlich auch waren — eine große Ungerechtigkeit.
Dass da im Zuge der Flüchtlingskrise der Eindruck entstehen konnte, Solidarität sei etwas, was nur für andere gilt, kann nicht verwundern. Auch wenn diese Wahrnehmung mit Blick auf die Leistungen des deutschen Sozialstaats und die Bedingungen, aus denen Menschen zu uns fliehen, verzerrt ist.
Porzellan zerschlagen
Trotzdem: Bei der sozialen Gerechtigkeit wurde in den vergangenen Jahren tonnenweise Porzellan (sprich das Vertrauen der Bürger in ihre Politiker) zerschlagen. Jenes Vertrauen, das die Parteien doch angeblich zurückgewinnen wollen, wie es auch Merkel gestern wieder betonte.
Wenn Union und SPD tatsächlich „klare Kante“ gegenüber der AfD zeigen wollen, dann müssen sie es auch auf diesem Feld tun. Sicher wird man damit nicht den xenophoben und islamfeindlichen Teil der AfD-Anhängerschaft überzeugen können. Aber jene, die von sich behaupten, „eigentlich gar nichts gegen Ausländer zu haben“, die löst man auf diese Weise vielleicht wieder aus den Fängen der AfD.
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