Erdbeben mit Hunderttausenden Flüchtlingen überfordert Nepal
28.4.2015, 18:30 UhrNach dem schweren Erdbeben haben Hunderttausende Menschen Nepals Hauptstadt Kathmandu verlassen. Eine Viertelmillion habe sich in den vergangenen Tagen auf den Weg gemacht, sagte ein Sprecher des Transportministeriums. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind etwa acht Millionen Menschen von den Folgen der Katastrophe betroffen, davon bräuchten 1,4 Millionen Menschen Nahrungsmittel.
Die Zahl der Erdbeben-Toten in der Himalaya-Region stieg auf mehr als 4700. Unter den Todesopfern ist auch ein Professor der Göttinger Georg-August-Universität, wie ein Sprecher der Hochschule mitteilte. Nepals Regierung räumte erstmals öffentlich ein, trotz zahlreicher Warnungen vor einem bevorstehenden großen Beben nicht ausreichend vorbereitet gewesen zu sein.
"Wir haben nicht genügend Mittel, und wir brauchen mehr Zeit, um alle zu erreichen", erklärte Innenminister Bam Dev Gautam im staatlichen Fernsehen. Die Behörden hätten Schwierigkeiten, die Krise zu meistern. "Wir waren auf ein Desaster dieses Ausmaßes nicht vorbereitet." Nepal ordnete drei Tage Staatstrauer an.
Überfüllte Busse
Die Flüchtlinge fühlten sich wegen der Nachbeben in der Stadt unsicher, sagte Roland Steurer, Nepal-Landesbüroleiter der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) am Dienstag. Die Menschen wollten bei Verwandten in Landesteilen unterkommen, die von der Katastrophe verschont blieben, oder wissen, wie es ihren Angehörigen und den Häusern auf dem Land gehe.
Sie waren in überfüllten Bussen, auf Lastwagen oder Motorrädern unterwegs. Oft zahlten sie den vierfachen Preis, oder kämpften mit Händen und Füßen um einen Platz - so wie Sita Bisural. "Mein Mann ist verletzt und unser Haus auf dem Land ist teilweise zerstört", sagte die 40-Jährige. Auch halte sie nichts in der Stadt: Ihr Geschäft ist in sich zusammengefallen.
Hilfsorganisationen gehen aber davon aus, dass die Lage in den entlegenen Gebieten Nepals noch viel schlimmer ist als in der Hauptstadt. Laxman Shrestha aus Sindhupalchok, einem der am schlimmsten getroffenen Gebiete, sprach von großer Zerstörung. "Ganze Dörfer in unserer Region wurden ausgelöscht. Sie sind weg, und keiner weiß, wie viele Menschen begraben wurden."
Die Wut in der Bevölkerung auf die Regierung wächst. Denn viele Menschen - sogar in Kathmandu - beklagen, dass sie noch gar keine oder kaum Unterstützung erhalten haben. "Wir leben hier auf der Straße, ohne Essen und Wasser, und wir haben in den vergangenen drei Tagen (seit dem Beben) keinen einzigen Beamten gesehen", sagte ein Mann, der mit seiner Familie im Freien campierte. Die meisten leben unter Planen in Parks, öffentlichen Plätzen oder auf den Straßen.
Stromversorgung zusammengebrochen
Zusätzlich leiden die Einwohner weiter unter Nachbeben. Die Stromversorgung ist zusammengebrochen, so dass weder Wasserversorgung noch Telekommunikation gut funktionieren. «In unserer Gegend gehen die Lebensmittel aus.
Die Läden sind so gut wie nicht geöffnet. Und wenn sie doch aufmachen, gibt es einen Ansturm, und alles ist binnen Minuten weg», beklagte ein Überlebender. Die Menschen kritisieren auch, ihnen mangele es an Gas zum Kochen. Vor Tankstellen bildeten sich lange Schlangen.
So dringend internationale Hilfe benötigt wird - sie kommt kaum durch. Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) konnte seinen bereits für den Montagabend geplanten Hilfsflug nach Nepal auch am Dienstagvormittag nicht starten. Der Luftraum sei zu voll.
An Bord der Maschine sind 60 Tonnen Hilfsgüter im Wert von 670 000 Euro, darunter Zelte, Decken und Hygienepakete. Der französische Außenminister Laurent Fabius sagte, der Flughafen Kathmandu sei noch immer völlig verstopft. Der einzige internationale Airport Nepals hat nur sechs Parkpositionen. Maschinen mit Hilfsgütern und Helfern müssen deswegen immer wieder umkehren. Viele Touristen können nicht ausfliegen.
Straßen sind noch blockiert
Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen schicken auch Teams über den beschwerlichen Landweg in die betroffenen Gebiete. Von Indiens Hauptstadt Neu Delhi dauert es drei bis fünf Tage.
Das Erdbeben der Stärke 7,8 hatte am Samstag große Teile Nepals sowie die angrenzenden Länder Indien und das chinesische Tibet getroffen. In Nepal stieg die Zahl der Toten auf rund 4700. Auf chinesischer Seite starben 25 Menschen, in Indien 72 Menschen. Es wird befürchtet, dass dort noch mehr Menschen ums Leben gekommen sind. Viele Straßen sind noch blockiert und Telekommunikationsverbindungen unterbrochen.
Der ums Leben gekommene deutsche Professor befand sich nach Angaben der Universität Göttingen mit 15 Studenten und einem weiteren Wissenschaftler auf einer Exkursion nordwestlich von Kathmandu, als die Gruppe vom Erdbeben überrascht wurde.
Der 67-jährige Matthias Kuhle sei in einer engen Schlucht von herabstürzenden Felsmassen getroffen und tödlich verletzt worden, erklärte seine Familie. Einige der Studierenden wurden leicht verletzt. Zu etwa 100 Deutschen in Nepal besteht derzeit kein Kontakt. Ein Krisenstab kümmere sich, versicherte das Auswärtige Amt.
Fast alle Bergsteiger gerettet
Am Mount Everest konnten inzwischen fast alle Bergsteiger gerettet werden. Dort hatte eine Lawine Teile des Basislagers zerstört. Viele Bergsteiger saßen außerdem in Höhencamps fest, weil die Abstiegsroute zerstört war. Die Polizei sprach von 17 Menschen, die am höchsten Berg der Welt gestorben seien.
Ein Sprecher der Tourismusbehörde gab die Zahl mit mindestens 20 an. Das indische Militär, das bei der Rettungsaktion mithalf, sprach von 22 Toten. In jedem Fall ist es das schlimmste Unglück in der Geschichte des Everest-Bergsteigens.
Bekannte Bergsteiger hatten kritisiert, dass zunächst den Ausländern am Mount Everest geholfen werde. Der Politikwissenschaftler Malte Schönefeld von der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald erklärte, da spielten auch immer Machtfragen eine Rolle. "Nach einem solchen Erdbeben ist die Situation vollkommen chaotisch. In der Frage der Priorisierung von Hilfsmaßnahmen spielt auch eine Rolle, wer - im übertragenen Sinne - noch am lautesten schreien kann", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. "Das sind aber nicht die wirklich Hilfsbedürftigen."
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