Club-Meisterschaft 1968: Franken ist im Ausnahmezustand
28.4.2018, 14:05 UhrDie Club-Senioren sind schon etwas länger dabei, angeblich seit 1932. Der erste offizielle Fan-Club des 1. FC Nürnberg trifft sich jeden Mittwoch im Nebenraum der Stuhlfauth-Stuben auf dem Vereinsgelände, wo Geschichte lebendig wird. Unter der Decke hängen ringsum gerahmte Bilder von Triumphen des Lieblingsvereins, auch die Deutsche Meisterschaft vor 50 Jahren ist ausführlich dokumentiert.
Ernst Bauer, der Sprecher der Club-Senioren, erinnert sich durchaus lebhaft an den einen oder anderen Stadionbesuch in der Saison 1967/68. "Die Stimmung war damals eine ganz andere", sagt Ernst Bauer, das Publikum nicht so heterogen wie heute. Ultras oder vergleichbare Gruppierungen gab es nicht, irgendwie fühlte sich jeder für die Atmosphäre verantwortlich. "Angefeuert haben wir die Mannschaft", erzählt Ernst Bauer, einfach "FCN, FCN, FCN", spontan, laut, ausdauernd, vor Eck- oder Freistößen oder einfach so. Wenn die Leute das Gefühl hatten, dass ihrer Elf etwas Unterstützung gerade guttun könnte.
Der legendäre Block 4
Gerhard Amschler kann das vollumfänglich bestätigen, obwohl er damals noch ein kleiner Bub war. Das legendäre 7:3 gegen die Bayern hat er als Neunjähriger Anfang Dezember im Städtischen Stadion erlebt, mit seinem Vater, die beiden standen in Block 1, das weiß er noch. Seine Blicke wanderten jedoch häufig nach links, hinüber zum legendären Block 4, nicht nur der vielen Fahnen wegen. "Das bleibt in Erinnerung", sagt Gerhard Amschler, der Block 4 in der Nordkurve galt auch in der Meistersaison bereits als zentrale Anlaufstelle für Extrem-Fans.
Gerhard Amschler ist heiser, "Kiel, Sie wissen schon", mit etwa zehn Mann war sein Fan-Club am Montagabend vertreten im Holstein-Stadion. Die berühmt-berüchtigte "Seerose" gibt’s jetzt offiziell seit fast 50 Jahren, inoffiziell wohl schon etwas länger, am 12. Mai ist die große Jubiläumsparty.
Seinen Namen verdankt der Fan-Club einem ehemaligen Ausflugslokal in der Nähe des Großen Dutzendteichs. Vor Heimspielen in den Sechziger Jahren versammelten sich da viele ältere Club-Anhänger, natürlich auch in der Meistersaison 1967/68, "die Szene", wie Gerhard Amschler heute sagt, zum Essen, zum Trinken, zum Reden. Rund ums Stadion tat man sich noch schwer, einen geeigneten Treffpunkt zu finden.
Fahrten im Gepäcknetz
Mit der Gründung des Fan-Clubs verfolgten die Mitglieder zunächst vor allem praktische Ziele. Die Durchführung von Auswärtsreisen zum Beispiel, wie Gerhard Amschler erklärt: Gruppenfahrkarten für die Bahn gab’s erst ab 15 Teilnehmern, der Sechzehnte durfte umsonst mit. Den so gesparten Betrag haben sie unter sich aufgeteilt. Solche Sachen. "Manchmal", sagt Gerhard Amschler, "ist der Sechzehnte aber auch einfach im Gepäcknetz mitgefahren."
Auswärts sah man die rot-schwarzen Banner und Transparente trotzdem vergleichsweise selten. "Zu anstrengend" seien die mitunter zweitägigen Reisen gewesen, erinnert sich Ernst Bauer von den Club-Senioren, die 50 Jahre später erhebliche Nachwuchssorgen plagen. Organisierte Fahrten bot unter anderem diese Zeitung an; zum Beispiel für 14 Mark mit dem Club-Express nach München.
Blaue Flecken und die Bayern
Helmut Götz ist damals mit eingestiegen und schwärmt noch heute von der Atmosphäre, erst recht auf der Heimfahrt. Die vielen, vielen Menschen überall, die Begeisterung, selbst der sonst eher ausladende Nürnberger Bahnhof pulsierte, so etwas vergisst man nicht. Auch die Mannschaft samt Präsidium war in einem Sonderzug unterwegs, bestehend aus der Lokomotive und nur einem Waggon; bei ihrer Rückkehr gegen 22.30 Uhr haben noch Tausende vor und in der Ankunftshalle gewartet, ein roter Teppich auf Bahnsteig eins wies den Fußballern und ihren Trainern und Betreuern den Weg in die längst brodelnde Altstadt. Franz Brungs brauchte sogar die Hilfe der Polizei, um dem Gedränge einigermaßen unversehrt zu entkommen. "Im Spießrutenlaufen durch die Anhänger-Schar", schrieb unser Beobachter, "bekam mancher Club-Spieler mehr blaue Flecken als beim Spiel gegen die Bayern." So ein Tag, so wunderschön wie heute...
Das Lied hatten die Fans auch im eigenen Stadion zigmal anstimmen dürfen von August 1967 bis Mai 1968. Der Zuschauerschnitt lag in der Meisterrunde bei knapp 40.000 (insgesamt 676.000) und somit signifikant höher als noch 1966/67, als bloß etwa 23.500 (insgesamt 400.000) zu den Heimspielen kamen. Auffällig ist die extreme Schwankungsbreite: 65.000 an einem Mitttwochabend gegen Borussia Mönchengladbach oder Anfang Dezember gegen den FC Bayern, 13.000 gegen Borussia Neunkirchen. Dass in der überragenden Vorrunde erheblich mehr den 1. FC Nürnberg sehen wollten als in der holprigen Rückrunde, lässt zudem darauf schließen, dass bereits vor 50 Jahren nicht jede Niederlage mit Schlusspfiff verziehen war. Auch nicht jede Niederlage des Bundesliga-Tabellenführers.
Spontan, laut und ausdauernd
Die Stimmung beschreiben Zeitzeugen dennoch als überwiegend positiv bis phasenweise gar euphorisch. Einpeitscher oder Vorsänger suchte man 1967/68 im Städtischen Stadion vergebens, stattdessen hörte man von allen Seiten häufig nur ein kerniges "FCN, FCN, FCN", wie auch Gerhard Amschler bestätigt. Spontan. Laut. Ausdauernd.
Die meisten Besucher aus nah und fern konnten nicht anders, als sich mitreißen zu lassen von diesem Club. Übertrieben kritisch gingen die Anhänger, von denen die ersten bereits mit später omnipräsenten Kutten voller Aufnäher herumliefen, nur selten um mit ihren Himmelsstürmern. "Kaum ein Ereignis im Leben Nürnbergs – Pest, Inflation, Krieg und Naturkatastrophen ausgeklammert – hat die Bürger derart umfassend aus dem Häuschen gebracht wie erneut seit einem Jahr der 1. Fußballclub Nürnberg", schrieb ein Kommentator dieser Zeitung, "die Stadt rotiert!" Wobei die Leute von praktisch überall her zu ihrem Club strömten.
Wer im Umkreis von 50, 60 Kilometern wohnte und sich noch kein Auto leisten konnte, setzte sich aufs Fahrrad, in Forchheim oder Pegnitz, bis zu drei Stunden hin, bis zu drei Stunden zurück.
Platzsturm in München
Selbst in Rio de Janeiro, New York oder im tiefsten Afrika fieberten Menschen mit, wie zahlreiche Briefe an die Redaktion dokumentierten. Der harte Kern allerdings stammte aus Nordbayern und es wurden immer mehr, die sich für diese großartige Mannschaft mit ihren überwiegend fränkischen Wurzeln begeisterten. Für Ferdinand Wenauer aus Katzwang, für Roland Wabra aus Unterreichenbach, für Fritz Popp aus Schweinau, für Heinz Strehl aus Gleißhammer, für Georg Volkert aus Ansbach, für Ludwig Müller aus Haßfurt. Im Städtischen Stadion saßen oder standen auch regelmäßig zahlreiche Freunde und Bekannte der angehenden Club-Legenden.
Von den aktuell über 660 Fan-Clubs existierten im Frühjahr 1968 erst fünf, in Nürnberg zwei, außerdem je einer in Dietenhofen, Kronach-Ziegelerden und Stegaurach-Mühlendorf, im Mai gründete sich dann die "Seerose". Zusammenschlüsse wie diese hatten anfangs meist noch informellen Charakter, letztlich musste sich jeder um fast alles kümmern.
Mit Bier von Schauplatz zu Schauplatz
Zum absoluten Spitzenspiel nach Mönchengladbach fuhr, wie unser Mann vor Ort berichtete, bloß "eine Handvoll" Nürnberg-Fans mit, im süddeutschen Raum waren es auch schon mal ein paar Hundert bis zu tausend. Am vorletzten Spieltag allerdings brachen alle Dämme; über 10.000 sollen es im Grünwalder Stadion gewesen sein, beim entscheidenden 2:0 gegen den FC Bayern, Platzsturm danach inklusive. "Stolz können die Schlachtenbummler ihre Fahnen erheben, stolz können sie ins Horn stoßen, wo immer sie ihr Weg hinführt", stand am Montag in dieser Zeitung. "Der Maßkrug darf bei einem solchen freudigen Ereignis in ihren Reihen natürlich nicht fehlen, denn Bier begleitete den Anhang von Schauplatz zu Schauplatz." Zwei offenbar besonders trink- und lauffreudige Club-Freunde aus Reinheim im Odenwald rollten im Mai extra ein 100-Liter-Fass zum letzten Heimspiel gegen Dortmund, über 200 Kilometer.
"Das Umfeld hat mir schon damals nicht gefallen, da ist so viel gesoffen worden", erinnert sich auch Ernst Bauer von den rüstigen Club-Senioren an die trotzdem faszinierende, bewegende Zeit, als sich jeder irgendwie als deutscher Meister fühlen durfte. Nicht nur die fabelhaften Fußballer des 1. FC Nürnberg hatten den Titel gewonnen, ganz Nürnberg, ganz Franken schwebte auf einer Wolke der Glückseligkeit. Wenn Ernst Bauer an die tagelangen Feierlichkeiten zurückdenkt, "dann kriege ich heute noch eine Gänsehaut". Es war eben schon immer etwas ganz Besonderes, ein Club-Fan zu sein.
Die nächste Generation
Auch deswegen soll es die "Club-Senioren" und die "Seerose" noch möglichst lange geben. Schon viele Jahre treffen sie sich auch abseits der Spieltage in der Gaststätte am Bahnhof Dutzendteich, nicht weit entfernt vom früheren, gleichnamigen Lokal. Bereits in der Saison 1967/68 kursierten Gerüchte vom zeitnahen Abriss, der eines Tages nicht mehr abzuwenden war.
Heute hat der Fan-Club immer noch rund 180 Mitglieder. "Unser Ziel ist es, dass unsere Kinder die Seerose weiterführen", sagt Gerhard Amschler, "wir übergeben die Seerose einfach an die nächste Generation." Und mit ihr all die schönen Erinnerungen, unter anderem an die vermutlich letzte Deutsche Meisterschaft ihres Lieblingsvereins.
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