"Die Sprache der Kirchen-Insider ist vielen fremd"

5.5.2017, 14:38 Uhr

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Herr Nürnberger, Sie haben gerade mit Ihrer Frau Petra Gerster ein Buch über Luther und seine Frau geschrieben. Was würde Luther zum derzeitigen Rummel um seine Person sagen? Würde er das mögen?

Christian Nürnberger: Halb und halb. Einerseits hat Luther immer bescheiden getan und sich zum Beispiel dagegen gewehrt, dass die Kirche lutherisch genannt wird. Andererseits hat er aber nichts dagegen gehabt, dass Lukas Cranach seine Bilder im ganzen Reich verbreitete und sie auch etwas schönte. Das hat Luther schon gefallen.

Und wie finden Sie, was da alles so läuft im Jubiläumsjahr? Von dem Playmobilmännchen...

Nürnberger: Ich habe auch zwei daheim . . .

... bis hin zum Streit zwischen Theologen und der EKD, ob denn auch ordentlich gefeiert werde und das theologische Programm so passe?

Nürnberger: Also das gehört zum Protestantismus dazu, dass gestritten wird. Das finde ich auch gut. Man kann auch darüber streiten, ob der Rummel angemessen ist. Und ich würde kritisieren, dass es nach 500 Jahren mal an der Zeit gewesen wäre Luthers Frau, Katharina von Bora, mit in den Mittelpunkt zu rücken. In fünf Jahrhunderten war eigentlich keine Reformationsfeier so richtig gelungen. Diese ist von allen, die wir hatten, immer noch die gelungenste. Was ich mich frage: Was wird bleiben? Die im Osten sind jetzt zwar alle begeistert von Luther, aber keiner kommt dort auf die Idee, in die Kirche einzutreten.

Wie sieht denn die Zukunft dieser Kirche aus? Wird sie in 100 Jahren Luther überhaupt noch feiern können? Gibt es da diese Kirche noch?

Nürnberger: Glaubensgemeinschaften, auch die ältesten unter ihnen, haben keine Ewigkeitsgarantie. Aber was immer bleiben wird, sind die ewigen Fragen und die Versuche, darauf eine Antwort zu finden.

Als da wären...?

Nürnberger: Luther hatte mit Erasmus von Rotterdam über den freien Willen gestritten. Darüber streiten sich bis heute die Hirnforscher mit den Philosophen. Luther meinte, der Mensch ist von Natur aus Sünder, bleibt Sünder und stirbt als Sünder. Erasmus meinte, der Mensch könne durch Bildung und Erziehung zur Vernunft kommen, und wer vernünftig sei, werde das Gute wollen und sich von seiner Natur befreien können. Freud gab Luther recht, die Erziehungsoptimisten halten es mit Erasmus.

"Was können wir wissen, was sollen wir tun, was dürfen wir hoffen?" Sind wir gottgewollte Geschöpfe oder Zufallsprodukte der Evolution, und was folgt aus den Antworten? Um solche Fragen haben sich die alten Glaubensgemeinschaften gebildet und werden sich weiterhin neue bilden. Die bestehenden werden so lange weiter bestehen, so lange ihre Antworten von genügend Menschen verstanden und für überzeugend gehalten werden.

Daran muss man momentan zweifeln. Woran liegt das vor allem?

Nürnberger: Vor allem daran, dass die Sprache der Kirchen-Insider den normalen, den säkularen Menschen fremd ist und man schon meist nach dem dritten Satz merkt: Ach, das ist ein Pfarrer. Die Kirchen-Leute müssten lernen, ihre Geschichten so zu erzählen, dass sie wieder einen Bezug zu uns haben. Am besten gehen sie da bei Journalisten in die Schule.

"Luther war im Grunde genommen der erste Journalist"

Könnten Sie da auch was von Luther lernen?

Nürnberger: Sehr viel sogar. Davon kommt ja der Erfolg Luthers, dass er im Grunde genommen der erste Journalist und der erste Sachbuchautor war, der sich so ausdrücken konnte, dass nicht nur der Verstand, sondern auch das Herz und die ganze Existenz des Menschen angesprochen war.

Und was müsste sich sonst noch ändern in den Kirchen?

Nürnberger: "Oben" mehr sparen und "unten" mehr Geld reinpumpen. Das Leben der Kirche spielt sich in den Gemeinden ab, nicht in den Wasserköpfen der Landeskirchenämter. In den Gemeinden und Dekanaten könnte viel mehr getan werden für Jugendliche, Alte und Hilfsbedürftige, für die Bildung und Kultur, wenn es dort mehr Personal und Geld gäbe. Stattdessen wird mit einem Großteil der in den Gemeinden erwirtschafteten Kirchensteuer eine Bürokratie gemästet, die sich mit sich selbst beschäftigt und die Lutherbotschafterin Käßmann in die Südsee schickt, damit sie dort bei Sonnenaufgang das Lutherjahr begrüße. Auf so eine Idee können nur von McKinsey angemuckerte Kirchenfunktionäre kommen, die in stundenlangen Gremiensitzungen ihre Existenzberechtigung beweisen müssen.

Wie sehen Sie die beiden führenden Männer der großen Kirchen, Heinrich Bedford-Strohm und Reinhard Marx?

Nürnberger: Die haben auch diesen Kirchensprech drauf. Das kommt vielleicht bei Leuten gut an, die protestantisch sozialisiert worden sind. Vor allem wenn sie über weltliche Dinge sprechen wie über soziale Gerechtigkeit oder über Flüchtlinge. Dann erreichen sie auch die, die nicht mehr in die Kirche gehen. Aber wenn es um Glaubensinhalte geht? Ich wüsste nicht, wofür Bedford-Strohm oder auch Marx da stehen.

Und was wäre der eigentliche Kern des Glaubens?

Nürnberger: Dass Gott seinem Volk ein Gesetz gegeben hat, nach dem es leben sollte. Und ein wesentlicher Inhalt dieses Gesetzes war die Gleichheit aller Menschen. Also die Botschaft: Der Ziegenhirt in seinen Lumpen zählt vor Gott genau so viel wie der Pharao in seiner Pracht. Wir haben es bis heute noch nicht geschafft, das zu realisieren.

Ist das heute Aufgabe der Kirchen oder nicht doch eher die der Politik?

Nürnberger: Die Soziallehre des Christentums hat viel dazu beigetragen zu dem, was heute in der Verfassung steht. Gleichzeitig musste das – etwa im 19. Jahrhundert – gegen die Kirche erkämpft werden. Die Behauptung, dass von Luther eine direkte Spur zur sozialen Gerechtigkeit geht, die stimmt so nicht. Die Kirche ist oft im Weg gestanden. Aber es stimmt von der Theorie her – und von Anfang an. Mit diesem Gleichheitsgrundsatz hat diese Religion begonnen und mit Autoritätskritik. Sie hat Herrschaft infrage gestellt.

Wie nah oder wie fern ist Ihnen dieser Luther?

Nürnberger: Er ist mir in manchem ganz nah und in manchem ganz fern. Das kann auch nicht anders sein. Er war bis zum Ende ein mittelalterlicher Mensch, der einem zuletzt mit seinen fürchterlichen Sprüchen gegen die Juden sogar zuwider sein kann. Auch wie er sich im Bauernkrieg verhalten hat, kann einen wie mich natürlich nicht erfreuen. Trotzdem wäre es billig, sich jetzt über ihn zu erheben und mit dem Vorsprung und Wissen von fünf Jahrhunderten über ihn herzufallen.

Er hat auf der anderen Seite eben auch unheimlich viel geleistet. Nicht nur mit der Bibelübersetzung, sondern auch damit, dass er das Christentum demokratisiert hat, indem er den Priester als Mittler zwischen Gott und Mensch abgeschafft und das Priestertum aller Gläubigen verkündet hat. Er hat das Gewissen und damit auch das Individuum entdeckt, womit er eingebettet war in den großen Strom der Humanisten. Letztlich hat das zur Aufklärung geführt. Das hat er alles nicht beabsichtigt, aber es ist durch ihn gekommen.

War Luther so etwas wie der Erfinder des Shitstorms? Er hat viele seiner Gegner in Flugblättern heftig attackiert, auch als Tiere verunglimpft.

Nürnberger: Er ist aber auch selber so verunglimpft worden. Die haben sich damals nichts geschenkt. Mir persönlich ist das aber lieber als unsere heutige Political Correctness. Lieber fetzt man sich mal ordentlich und scheut vor keiner Polemik zurück, um die Dinge mal ordentlich zu klären, als sich mit Samthandschuhen anzufassen und letztlich nichts zu klären.

Wie zur Zeit Luthers erleben wir gerade wieder so etwas wie eine Medienrevolution. Was macht die aus uns Menschen? Sind wir fit für die digitale Welt?

Nürnberger: Ja, das sieht man an unseren Kindern, die damit aufgewachsen sind und ganz selbstverständlich damit umgehen. Im Gegensatz zu den Älteren halten sie auch mit dem Tempo mit. Wohin es geht, ist allerdings völlig ungewiss. Man kann es allenfalls erahnen. Der große Umbruch steht uns noch bevor, wenn die ganze Welt mit Sensoren bestückt, alles miteinander vernetzt ist und die Roboter in der Industriefertigung das Kommando übernehmen. Dann stehen wir vor der Frage, wie die Menschen, die dadurch arbeitslos werden, sozial gesichert werden können.

"Wir werden auch lernen, mit Fake News umzugehen"

Bisher waren Medienrevolutionen Projekte der Aufklärung. Darf man diese Hoffnung bei der jetzigen auch noch haben? Das Internet ist zunächst ja mal als basisdemokratische Offenbarung gefeiert worden.

Nürnberger: Daran habe ich nie geglaubt. Ich habe schon früh geschrieben, das wird ein Verkaufskanal für die großen Konzerne, was es jetzt auch ist. Dass es auch noch ein Kanal für Desinformation wird, habe ich mir auch nicht träumen lassen, aber ich glaube, das kriegen wir in den Griff. Weil man ja den Umgang mit den neuen Dingen immer erst erlernen muss. Wir werden auch lernen, mit Fake News umzugehen.

Kann sich unsere aufklärerische Vorstellung von Freiheit gegen die ökonomischen Interessen der digitalen Welt behaupten?

Nürnberger: Im Moment noch nicht. Aber ich glaube, das wird kommen. Dieses Medium bietet die Chance, sich international zu vernetzen und zu organisieren. Viele in der heutigen Jugend haben schon so viele Auslandskontakte, sprechen mehrere Sprachen – auf die setze ich.

In England gibt es viele Jugendliche, die gegen den Brexit sind, und es gibt viele junge Leute, die mit all den französischen Politikern nichts mehr anfangen können. Die springen alle sofort an, wenn da was käme, was sie überzeugt und was sie als cool empfinden.

Stellen Sie da auch so etwas wie eine Repolitisierung fest, etwa durch Initiativen wie Pulse of Europe?

Nürnberger: Ja. Die machen das mit ganz anderen Formen und viel spontaner. Sie wollen sich auch nicht langfristig an große Organisationen binden, in Parteien oder Kirchen eintreten. Die arbeiten lieber an konkreten Projekten. Das wird auf Dauer aber auch nicht genügen. Irgendwann werden sie merken, dass man sich organisieren und langfristig dicke Bretter bohren muss.

Ihre Partei, die SPD, hat ja in den letzten Wochen ganz euphorisch darauf reagiert, dass aus lauter Begeisterung über Martin Schulz plötzlich viele, auch junge Menschen in die Partei eingetreten sind. Ein Strohfeuer?

Nürnberger: Ja, es wird ein Strohfeuer bleiben, wenn da nicht mehr kommt. Wir fahren jetzt schon seit längerem mit Frau Merkel auf Sicht durch den Nebel. Das macht sie sehr gut, sie umschifft jede Klippe, vermeidet den Aufprall mit jedem Eisberg. Aber was fehlt, ist jemand, der sagt, wie wir aus dieser Nebelsuppe endlich mal herauskommen in lichtere Gefilde. Dafür braucht man einen Plan. Und über den nachzudenken, hat die SPD schon seit langem aufgegeben. Sie ist froh, wenn sie am Steuer mit assistieren kann. Das reicht ihr.

Was müsste dieser Plan beinhalten?

Nürnberger: Man müsste vor allem darüber nachdenken, wie wir soziale Sicherheit garantieren. Auch unter dem Aspekt, dass wir vielleicht bald wieder ein paar Millionen Arbeitslose mehr haben durch die Robotisierung. Man muss beispielsweise über Grundeinkommen nachdenken. Und ich bin ein Fan von Helikoptergeld, von dem alle sagen, es sei Irrsinn. Wenn der Staat Geld an die Bürger verteilt, die das brauchen könnten, ist das aber auch nicht irrsinniger als das, was Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank, macht, nämlich seit Jahren Geld an die Banken zu verteilen, die das ganze Schlamassel angerichtet haben.

Ist es ein Irrtum zu glauben, wir hätten die Finanzkrise überwunden?

Nürnberger: Das Fatale sind vor allem die tiefen Spuren, die diese Krise im bürgerlichen und liberalen Lager hinterlassen hat. Dort hat man immer geglaubt, wer tüchtig und fleißig ist, wird belohnt, und wer faul ist und verschwenderisch, der wird bestraft. Das Gegenteil ist eingetreten. Die Banken haben gezockt, die Gewinne kassiert und die Verluste auf die Steuerzahler abgewälzt. Und jetzt erleben die Menschen, dass derjenige, der spart, Strafzinsen zahlen muss. Das ganze Modell der Marktwirtschaft ist auf den Kopf gestellt. Auch da bräuchte man mal eine politische Kraft, die das thematisiert und Wege aufzeigt, wie man da wieder herauskommt. Deshalb war ich vor vier Jahren dafür, dass die SPD in Opposition geht und über diese Fragen nachdenkt, statt sich im Regierungsalltag zu verschleißen.

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