Kommentar: Eine Mogelpackung

Georg Escher

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26.4.2017, 20:39 Uhr

Dem Publikum wird da etwas vorgegaukelt, was die EU-Kommission gar nicht einlösen kann. All die wunderbaren Segnungen, die in dieser Junckerschen Sozialcharta aufgeführt werden, sind nur Vorschläge. Ob daraus Wirklichkeit wird, das müssen die Mitgliedsstaaten entscheiden. Und das könnte eine zähe Angelegenheit werden.

Denn anders als bei der Agrarpolitik, die weit überwiegend in Brüssel bestimmt wird, ist die EU für die Sozialpolitik schlicht nicht zuständig – oder nur für grundlegende Mindeststandards. Und selbst das war zumindest den Briten schon immer zu viel.

Dass die EU eine soziale Schlagseite entwickelte, hat natürlich eine Vorgeschichte. Bereits Mitte der 1990er Jahre, kurz vor Ende seiner Amtszeit, hatte der damalige EU- Kommissionschef Jacques Delors angemahnt, der gemeinsame Binnenmarkt müsse auch die soziale Dimension berücksichtigen. Das war zu einer Zeit, als der Neoliberalismus längst Urstände feierte. Der Bankenbereich wurde dereguliert – mit all den verhängnisvollen Folgen, die das später haben sollte.

Der letzte Visionär

Doch Delors war der letzte Visionär an der Spitze der EU. Der Letzte auch, der eine Vorstellung davon hatte, dass die Union ihr Markenzeichen, ein sozialeres Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zu leben als die Weltmacht USA, neu würde unterfüttern müssen.

Auf den machtbewussten Franzosen folgte dann aber der überaus schwache frühere luxemburgische Ministerpräsident Jacques Santer. Fortan tat die EU, auch unter Santers Nachfolgern Romani Prodi und José Manuel Barroso, viel für den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Personen. Doch die soziale Dimension Europas geriet irgendwie in Vergessenheit.

Virulent wurde das Thema erst wieder nach dem großen Börsencrash von 2008. Doch auch heute, fast ein Jahrzehnt später, hat die europäische Politik nicht wirklich umgesteuert.

Wobei: Geld allein löst das Problem nicht. Im Jahr 2013 verpflichteten sich die Mitgliedsstaaten in der "EU-Jugendgarantie" dazu, junge Menschen unter 25 Jahren schnell wieder in Arbeit zu vermitteln und für den Arbeitsmarkt fit zu machen. Dafür wurden Milliarden bewilligt. Doch sie helfen nicht, wenn in den Staaten nicht bessere Strukturen geschaffen werden.

Vernünftig, aber . . .

Auf der von der EU-Kommission nun zusammengestellten Wunschliste stehen etliche sehr vernünftige Dinge, etwa dass Kinder unabhängig vom Einkommen der Eltern gute Bildungschancen haben müssen. Da gibt es auch im reichen Deutschland Nachholbedarf. Doch, wie gesagt, zuständig ist nicht die EU. Was die Mitgliedsstaaten daraus machen, bleibt abzuwarten.

Andererseits gibt es für die EU sehr wohl ein Betätigungsfeld. Bis zum heutigen Tag fließen Abermilliarden in Steueroasen. EU-Mitgliedsstaaten wie Irland oder die Niederlande haben ein Geschäftsmodell daraus gemacht, internationale Konzerne mit Steuersätzen anzulocken, die zum Teil eine Null vor dem Komma haben.

Daran hatte unglücklicherweise auch der heutige EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker als ehemaliger Finanzminister und Regierungschef Luxemburgs seinen Anteil – und das schmälert seine Glaubwürdigkeit. Das ist die wichtigste soziale Schieflage in Europa. Mit diesen Milliarden, wenn sie in den Kassen der Staaten wären, ließen sich viele sozialen Probleme lösen. Dazu könnte die EU selbst einen wichtigen Beitrag leisten. Doch das steht nicht auf Junckers Liste.

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