Kommentar: Wenn Verfassungsschützer spekulieren
7.9.2018, 13:16 UhrGab es in Chemnitz "Hetzjagden"? Oder waren es "nur" ganz "gewöhnliche" rassistische Gewalttaten, die die Öffentlichkeit erschütterten und nun für weitere Diskussionen sorgen? Für jeden, der nicht selbst in Chemnitz dabei war, bleibt das wohl schwierig zu beurteilen. Stützen kann man sich auf wackelige Handyvideos und auf die Berichte von seriösen Journalisten aus Chemnitz und andernorts.
Oft zitiert wird das sogenannte "Hase"-Video, das am 26. August auf der Facebook-Seite von "Antifa Zeckenbiss" veröffentlicht wurde und auch auf Youtube zu finden ist: Mindestens zwei Männer laufen aus einer Gruppe heraus auf zwei Männer mit Migrationshintergrund zu, bezeichnen sie als "Kanaken". Einer versucht, einen Davonlaufenden zu treten. Sie rufen ihnen hinterher: "Ihr seid nicht willkommen!" Eine Frau, die nicht zu sehen ist, ermahnt einen Mann, vermutlich ihren Freund, mehrmals: "Hase, du bleibst hier!"
Geheimdienst-Chef sollte nicht öffentlich spekulieren
Ein Fake? Möglich, doch das müssen Experten beurteilen. Dass Verfassungsschutz-Chef Maaßen sagt, es lägen "keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist", hilft nicht weiter. Hat Maaßen denn Belege, dass das Video nicht authentisch ist? Wenn ja, warum nennt er sie nicht? Es sprächen "gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken", so der Geheimdienstleiter.
"Gute Gründe", "möglicherweise" - viel Spekulation für eine Behörde, die eigentlich dafür da ist, gesicherte Informationen zu sammeln. In Interviews über etwaige Ablenkungsmanöver zu dozieren, gehört sicher nicht zu Maaßens Stellenbeschreibung. Vor allem nicht, ohne die eigenen Erkenntnisse vorab der Bundesregierung, der er untersteht, zu übermitteln - das hat er laut deren Sprecher nicht getan.
Die Bild, in der Maaßen sich äußerte, veröffentlichte am 28. August übrigens ein Video unter dem Titel "Chemnitz: Entfesselter rechter Mob schrie Hassparolen – Polizei hielt Abstand". Darin heißt es, nach dem Tod des 35 Jahre alten Deutschen "hatten rechte Schlägertrupps willkürlich Jagd auf ausländisch aussehende Menschen gemacht." In den Aufnahmen ist zu hören, wie gegrölt wird: "Für jeden toten Deutschen, einen toten Ausländer", "Wir kriegen euch alle", oder auch "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!"
"Hetzjagd", "Jagdszene": Streit über Definition ist nebensächlich
Unter den berufsmäßigen Berichterstattern gibt es manche, die von Hetzjagden berichteten, manche haben sich für andere Formulierungen entschieden. So erklärte Torsten Kleditzsch, Chefredakteur der Freien Presse: "Es gab aus der Demonstration heraus Angriffe auf Migranten, Linke und Polizisten. So wurde Menschen über kurze Distanz nachgestellt. Insofern wäre der Begriff 'Jagdszene' noch gerechtfertigt. Eine 'Hetzjagd', in dem Sinne, dass Menschen andere Menschen über längere Zeit und Distanz vor sich hertreiben, haben wir aber nicht beobachtet."
Ob "Hetzjagd" oder "Jagdszenen", das wird wohl umstritten bleiben und hängt von der Definition des Begriffs ab, die jeweils zu Grunde gelegt wird. Damit wird man leben müssen. Schwer erträglich ist aber, dass Sachsens Ministerpräsident Kretschmer (CDU) pauschal behauptet: "Klar ist: Es gab keinen Mob, keine Hetzjagd und keine Pogrome."
Das zeigt, worum es der sächsischen Regierung geht: Nicht etwa um Aufklärung, sondern darum, 1. der AfD am rechten Rand Konkurrenz zu machen, und 2. das ohnehin nicht gerade strahlende Image des Bundeslandes nicht noch weiter zu ramponieren. Mit seinem Krisenmanagement erreicht der Ministerpräsident allerdings in beiden Punkten das genaue Gegenteil.
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