Nach Vorfällen in Köln: "Nicht Flüchtlinge verantwortlich machen"
7.1.2016, 06:00 UhrWir fragten Prof. Mathias Rohe, Islamwissenschaftler und Jura-Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er hatte jüngst eine aufsehenerregende Studie zur Macht libanesischer Familienclans in Deutschland vorgestellt.
NZ: Herr Professor Rohe, die Vorfälle in der Silvesternacht erinnern an das, was aus Kairo berichtet wird: Frauen werden dort häufig in aller Öffentlichkeit sexuell belästigt. Wie kommt dieses Frauenbild vieler Männer aus der arabischen Welt zustande?
Mathias Rohe: Letztlich scheinen mir die dort noch weit verbreiteten patriarchalischen Strukturen verantwortlich zu sein. Da wird zwar einerseits offiziell ein segregiertes Geschlechterverständnis gepflegt, aber das ist oft Theorie. In der Praxis haben in patriarchalischen Kulturen Frauen wenig zu sagen und Männer meinen dann, sich Übergriffe erlauben zu können.
NZ: Der aus Syrien stammende Bestsellerautor Rafik Schami stellt in seinem neuen Roman heraus, dass die ungebrochene Macht der Stämme in arabischen Gesellschaften die Keimzelle allen Übels sei, da sie den Individuen die Luft zum Atmen nimmt. Was sagen Sie als derzeit oberster Clanexperte der Nation dazu?
Rohe: Es ist vermutlich eines der Grundübel, das das Grundübel des Patriarchats noch verstärken kann, weil diese Clans eine extrem starke Kontrolle nach innen ausüben und hohe Loyalitätserwartungen hegen. Das heißt: Eine Ausstiegs-Option und damit die Möglichkeit, eine individuelle Lebensführung zu pflegen, wird in Gesellschaften und Ländern mit stark verbreiteten Clanstrukturen noch unwahrscheinlicher als in einer etwas offeneren Gesellschaft, selbst wenn diese patriarchalisch grundiert ist.
NZ: Innerhalb der arabischen Welt gibt es offenere und weniger offene Gesellschaften. Wie stark wirkt sich das aufs geltende Frauenbild aus?
Rohe: Je traditioneller die Gesellschaftsstrukturen und je mehr Menschen wirtschaftlich auf das Leben in Großfamilien angewiesen sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass patriarchalische Strukturen aufrechterhalten werden. Je mehr Kleinfamilien und je höher der Bildungsgrad in einem Land, desto geringer wird der Einfluss patriarchalischer Ideen. Diese verschwinden nicht ganz, aber sie weichen sich auf. Die Bamberger Islamwissenschaftlerin Rotraud Wielandt hat über das Frauenbild geforscht, das arabische Männer von Europäerinnen haben.
NZ: Wie genau sieht das aus?
Rohe: Das Bild der europäischen Frau wird in der arabischen Literatur deutlich. Es gibt ein weit verbreitetes Vorurteil, wonach europäische Frauen praktisch jederzeit zu haben sind. Die Männer sehen, wie viele Freiheiten wir hier haben. Was sie hingegen nicht sehen, ist, dass die meisten Menschen von diesen Freiheiten keinen Gebrauch machen. Es existiert also eine Art umgekehrte Haremsfantasie: So wie wir im 19. Jahrhundert bestimmte Vorstellungen auf die orientalischen Harems projiziert haben, gibt es heute männliche Projektionen aus der arabischen Welt auf die angeblich leicht zu habende europäische Frau. Das geht mit einer gewissen Verachtung der Frauen einher – was fatal ist für unser Zusammenleben.
NZ: Leistet der Islam dem patriarchalischen Denken Vorschub?
Rohe: Man darf keinesfalls dem Islam die Verantwortung für die Vorfälle in Köln und Hamburg in die Schuhe schieben. Wer als Muslim betrunken in einer Horde junge Frauen belästigt, handelt ganz sicher gegen seine Religion. Trotzdem muss man darauf hinweisen, dass viele Vertreter der Religion eine patriarchalische Grundhaltung haben, die die Probleme nicht gerade vermindert. Das Geschlechterbild ist klar: Jeder wird respektiert in seiner Rolle, aber die Rollen sind nicht austauschbar. Wir müssen aber auch sehen: Es gibt Denkschulen des Islam, die aus ihrer Religion die volle Gleichberechtigung der Geschlechter ableiten. Viele Muslime tun das in der Praxis ja auch – ob in ihren Herkunftsländern oder in Europa.
NZ: Wie sollen wir mit denen umgehen, die das nicht tun beziehungsweise neu nach Europa kommen?
Rohe: Wir müssen einerseits Ruhe bewahren und dürfen nicht die Flüchtlinge dafür verantwortlich machen, dass es solche furchtbaren Auswüchse gibt. Andererseits müssen wir sehr deutliche Maßnahmen ergreifen, um das künftig zu vermeiden. Mehr Polizeipräsenz bei öffentlichen Veranstaltungen mit Platzverweisen im Vorfeld gehören dazu. Parallel dazu müssen wir sehr intensiv den Menschen, die zu uns kommen, klarmachen, was in unserem Land geht und was nicht und wie das Zusammenleben der Geschlechter organisiert ist.
Broschüren oder Aufklärungsseminare sind wenig nachhaltig. Was wir brauchen sind Botschaften, die zeitgemäß und attraktiv verpackt sind. Ich entwickle hier gerade entsprechende Konzepte. Wichtig ist eine Smartphone-kompatible Internetpräsenz. Für die meisten Flüchtlinge ist das Smartphone enorm wichtig. Wenn wir also eine attraktive Internetplattform mit zugehöriger App entwickeln, können wir dort zum Beispiel Videoclips einstellen, die den Betroffenen Hilfestellung im Alltag geben, aber auch Botschaften vermitteln, die wichtig für unser Zusammenleben sind.
Darin könnten zum Beispiel Vorbilder wie prominente Fußballer zu Wort kommen. Wichtig ist, dass das Angebot so attraktiv ist, dass es von der Zielgruppe auch gern genutzt wird.