Das Grauen der Vernichtungslager nur langsam begriffen
18.5.2013, 00:00 UhrDie alte Dame spricht leise. Manchmal richtet sie ihre Stimme ganz nach innen, so als würden sie die Bilder, die an ihrem inneren Auge vorbeiziehen, übermannen. Dann wieder ist sie ganz nüchtern, fast schon pointiert, wenn sie etwa von dem Kleid berichtet, das ihr Aufseherinnen in Auschwitz aus dem Fundus der Verstorbenen zum Anziehen gaben — „es war ein elegantes Seidenkleid, ich trug bis zum Kriegsende ein elegantes Seidenkleid“. Was die 91-Jährige in ihren jungen Jahren erlebte, ist sonst kaum in Worte zu fassen und für die 15- bis 17-jährigen Schüler, die an ihren Lippen hängen, mehr als eine spannende Geschichtsstunde — es ist ein Lebensdrama.
Mit 20 deportiert
Sie war genau 20, an diesem Tag im Januar 1942, als sie zusammen mit ihren Eltern nach Theresienstadt deportiert wurde, das Leben in 50 Kilo Gepäck zusammengepresst. Schon die Jahre zuvor hatte die jüdische Familie, die in Prag einen Laden besaß, den Terror der Nazis im Protektorat hautnah erlebt, die Schikanen, die Verbote. „Doch da ging es noch nicht ums Leben“, sagt Lisa Miková, die damals eine Ausbildung zur Zeichnerin an einer Modeschule absolvierte. Dass sie die Torturen der nächsten Jahre beinahe nicht überleben würde — „am Ende war nicht mehr viel Zeit“ – wusste sie da noch nicht.
Der Aufenthalt im Lager Theresienstadt, wo sie immerhin in einem Büro als technische Zeichnerin arbeiten durfte, gab ihr vielmehr das Gefühl, schon das Schlimmste von allem zu erfahren: die Trennung von den Eltern, den Hunger, die Schikanen. Und auch die irren Bemühungen der Nazis, mit Symphonieorchester und Theatergruppe die anderen Länder glauben zu machen, in den Ghettos gehe es den Menschen eigentlich gut.
Dann kam der Transport nach Auschwitz. Eine Stecknadel kann man fallen hören, als die 91-Jährige von der Ankunft auf dem großen Gleisbahnhof berichtet, von den Scheinwerfern, den rauchenden Schloten der Krematorien, den SS-Männern mit ihren Hunden, den Menschen in den Sträflingskleidern. Auch sie war einer der vielen perfiden Lügen der Nazis aufgesessen, die den Frauen in Theresienstadt, deren Männer sie vorher bereits deportiert hatten, die Familienzusammenführung versprochen hatten. Auch Lisa Miková wollte zu ihrem Mann Frantisek, den sie im Ghetto kennen gelernt und geheiratet hatte und hatte sich freiwillig für den Transport gemeldet.
Doch statt ihrem Mann erwartete sie dort das Grauen des Vernichtungslagers. Kinder, Ältere und Schwangere kamen sofort in die Gaskammern, sie, weil noch kräftig genug, ins Quarantänelager. Viele Monate lebte sie zusammengepfercht mit zehn weiteren Frauen auf einer Pritsche, kahlgeschoren, krank, hungrig. „Ein Stück Brot, das bedeutete damals Leben oder nicht Leben“, resümiert sie heute. Zu zehnt teilen sie sich einen Teller Suppe, Löffel gibt es nicht. Als sie die Suppe am Anfang verweigern, weil sie sich schämen, mit den Händen nach den Stücken darin zu greifen, warnen sie mitgefangene Polinnen: „Wenn ihr nicht esst, werdet ihr schwach. Und dann geht ihr durch den Kamin".
Stundenlang müssen die Gefangenen täglich Appell stehen. Überall auf dem Gelände liegt Staub — Asche aus den Krematorien. Vor Auschwitz habe sie keine Ahnung gehabt, was dort wirklich passiert, sagt Lisa Miková, dort habe sie es sehr schnell erfahren: „Wir haben alles gesehen, gerochen und gehört“.
Dass sie überlebte, hat sie der Tatsache zu verdanken, dass die Deutschen im Oktober 1944 zusätzliche Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie brauchten und so kam Lisa Miková nach Streitberg in Sachsen, einem Außenlager des KZ Flossenbürg, wo sie in einer Fabrik arbeiten und Flugzeugteile zusammenbauen musste. Die Fahrt dorthin eine Tortur: „Wir wurden in Viehwaggons gepfercht ohne Licht. Ab und zu wurde die Tür geöffnet und es hieß: ,Tote raus‘. Dann mussten wir diejenigen, die die Torturen nicht überstanden hatten, hinauswerfen.“ In der Fabrik ging es den Gefangenen etwas besser, sie konnten anfangs sogar dort schlafen, es gab mehr zu essen und viele der Aufseher hätten Mitleid gehabt und mit ihnen Tee und Kaffee geteilt, berichtet Lisa Miková.
Doch auch an grausame Dinge kann sie sich erinnern – etwa an die SS-Aufseherin, die das neugeborene Kind einer Mitgefangenen mit bloßen Händen erwürgte.
„Glück“ in Mauthausen
Am Ende des Krieges, im Winter 44/45 hätten auch sie langsam die Kräfte verlassen, erzählt die 91-Jährige, die Arbeit sei schwer und sie alle krank und entkräftet gewesen. Kurz vor Schluss durchleben die deportierten Juden dann noch eine weitere Tortur: 14 Tage lang werden sie in Zügen im deutsch-tschechischen Grenzgebiet hin und hergeschickt. Anfang Mai 1945 landen sie schließlich im österreichischen KZ Mauthausen. Und haben Glück — dort sind am Tag zuvor die Gaskammern abgebaut worden und die SS-Schergen auf der Flucht. Wenige Tage später stehen die Amerikaner vor der Tür.
Endlich in Prag zurück, erlebt Lisa Miková das, was sie am Ende nicht mehr zu träumen gewagt hat — auch Ehemann František hat den Holocaust überlebt und kehrt wenige Tage nach ihr in seine Heimat zurück. Ihre Eltern allerdings sieht sie nie wieder, sie wurden in Auschwitz vergast.
Ob sie keinen Hass empfinde, auf die Deutschen, ist eine der vielen Fragen, die die Schülerinnen und Schüler Lisa Miková, die der Förderverein auf Initiative von Geschichtslehrerin Magdalena Seidler an die Schule geholt hat, an diesem Vormittag stellen. Nein Hass habe sie nie empfunden, „mit Hass kann man nichts anfangen.“ Ihr sei es ein Anliegen, vor dem Faschismus zu warnen, deshalb gehe sie in die Schulen, berichte von ihrem Leben. Denn vom Faschismus habe sie nach dem Grauen der NS-Zeit gedacht, er könne sich nicht wiederholen. „Doch er ist leider zurück und zwar in vielen Ländern“.
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