Poeten und Publizisten auf Gesellschaftserkundung
27.08.2012, 13:29 Uhr
Wer hat die Macht im Staat?“ fragte die Sonntagsmatinee und gab mit dem zweiten Teil der Fragestellung („Sind wir auf dem Weg in die Postdemokratie?“) schon fast die Antwort. Jawohl, sagt Autor Friedrich Dieckmann, Demokratie und Europa gehen nicht zusammen, Demokratie funktioniert nur im nationalstaatlichen Rahmen.
Das will Cicero-Chef Christof Schwennicke so nicht unterschreiben, er hält Europa und die Demokratie für eine conditio sine qua non — ein Zurück gebe es nicht, der Währungsunion müsse der demokratische Staatenbund Europa folgen. Und zwar mit „Politikern, die wir wählen, damit sie Mut haben“, wie der Autor Mathias Greffrath fordert, der die parlamentarische Demokratie gerne wieder instandgesetzt sähe.
Die Macht im Staat sehen die Berliner Journalistin Daniele Dahn und der Soziologe Roland Roth keineswegs im Parlament — und zu reparieren gebe es da auch nichts mehr. Andere, direkte Formen der Demokratie (sowohl Occupy als auch Räte seien da vorstellbar) hätten mehr Kraft in einer Zeit, in der es „kein revolutionäres Subjekt“ mehr gibt, wie Mathias Greffrath konstatierte.
Moderator Wilfried F. Schoeller („Die Politik hält mit dem Tempo der Finanzmärkte nicht Schritt“) schien es zu gehen wie Christof Schwennicke. Letzterer bekannte im Angesicht der Krise: „Eigentlich blicken wir doch alle nicht durch.“ Das Publikum sah sich ertappt und applaudierte.
Wer die Gegenwart verstehen möchte, muss sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Das neue Buch „Das grüne Zelt“, der bekannten russischen Schrifstellerin Ljudmila Ulitzkaja, das sie in
der überfüllten Orangerie vorstellte, spannt einen Erzählbogen vom Tode Stalins bis ins Jahr 1996. Auslöser für den Roman: „Die Jugend von heute hat ein kritisches Verhältnis zur Generation der ,60er‘ und macht diese für die schlimmen heutigen Zustände verantwortlich.“

Für Ulitzkaja ist das Russland von heute ein Land, das von der Geheimpolizei regiert wird. Von Herrschern, die längst nicht mehr an Ideologien interessiert sind, sondern ausschließlich an Geld und Machterhalt. Einziger Ausweg wäre die Schaffung einer Zivilgesellschaft, die bislang lediglich in Ansätzen vorhanden sei. Den radikalen Protest, wie er etwa von den jungen „Pussy-Riot“-Mitgliedern zelebriert wird, hat Ulitzkaja anfangs als nicht sonderlich gelungen eingeschätzt. Nach den Reaktionen darauf hat sie aber ihre Ansicht revidiert: „Die hatten Recht!“
Angesichts solcher Vorlagen hätte die Antwort auf die Frage, ob sich Europa abschafft, nur lauten können: Es gibt viele Hinweise darauf. Trotzdem hielten die Teilnehmer der Diskussion in der Orangerie am späten Sonntagnachmittag das blaue Banner mit den goldenen Sternen hoch — allen voran Hans Christoph Buch, der fern aller Europa-Euphorie gerade auf dem „alten Kontinent“ die Lokomotive arbeiten sieht, die allen anderen gescheiterten Staatenbünden Vorbild sein und „Entwicklungshilfe“ anbieten könnte. Die Gründe für das Wiedererwachen chauvinistischer Tendenzen in vielen Staaten sieht der Schweizer Publizist Dieter Bachmann in der Angst der Krisenverlierer, eine Angst, die die Südeuropäer von „der reichen Tante in Berlin“ entferne. Die Russin Olga Martynowa sieht ihr Land trotz Putin als europäisches, und der in Berlin lebende Ungar György Dalos beruhigt: „Wer den Euro verlässt, verlässt Europa noch lange nicht.“
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