Fall Peggy: Führt die Spur ins Ausland?

28.3.2014, 11:05 Uhr
Fall Peggy: Führt die Spur ins Ausland?

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Zwei Mitschüler haben Peggy an jenem regnerischen 7. Mai 2001 zwischen 14.45 Uhr und 15 Uhr in einen roten Mercedes mitten in Lichtenberg einsteigen sehen. Ihre Beobachtung gaben die beiden Buben am anderen Tag der Polizei zu Protokoll, als die Suchaktion nach der Neunjährigen auf Hochtouren lief. Und sie fügten hinzu, dass das Auto mit dem „Stern vorne“ kein deutsches Kennzeichen gehabt habe, sondern ein tschechisches.

Fall Peggy: Führt die Spur ins Ausland?

„Es ist zwar auch weiß und hat schwarze Zahlen. Aber die Zahlen und Buchstaben sind kleiner“, erzählte einer der Jungs dem Beamten, der zweifelte, ob die Kinder die Nummernschilder überhaupt einordnen konnten. Heute sind die Buben erwachsene Männer — und immer noch der festen Überzeugung, damals nur ein paar Meter entfernt zugesehen zu haben, wie Peggy in ihrer gelb-weiß-schwarzen Jacke und in ihrer dunklen Wollhose in den roten Wagen gestiegen ist.

Bereits tot?

Die Polizei hatte ihren Aussagen jedoch keinen Glauben geschenkt, und drei Jahre später, am 30. April 2004, hieß es im Mordurteil gegen den geistig behinderten Ulvi K., er habe Peggy am 7. Mai 2001 zwischen 13.15 Uhr und 14 Uhr umgebracht. Obwohl die Leiche nie gefunden wurde.

Die Jungs auf dem Henri-Marteau-Platz konnten das Mädchen also gar nicht gesehen haben, es war um 14.45 Uhr ja bereits tot. Oder doch nicht?

Cathrin Schauer in Plauen jedenfalls erhielt wenige Tage nach Peggys Verschwinden die Mitteilung ihrer Kollegen aus Tschechien, Peggy sei dort vielleicht in einem roten Mercedes gesehen worden. Schauer ist Sozialarbeiterin beim Verein Karo, der sich seit 1994 gegen Zwangsprostitution, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Kindern engagiert und Betroffenen Schutz und Hilfe anbietet — grenzüberschreitend.

Kriminelle Familie

Es sei eine „sehr schwierige Geschichte, Kinder zu motivieren“, ihre Peiniger anzuzeigen, sagt Cathrin Schauer, die es für denkbar hält, dass Peggy ins Ausland gebracht worden ist. Immer wieder hat sie erlebt, dass Minderjährige in Tschechien „verschwanden“, die Ermittlungen dann aber im Sand verlaufen sind. Im Bereich Kinderprostitution und sexuelle Ausbeutung von Buben und Mädchen gebe es ein „extrem hohes Dunkelfeld“, berichtet die Sozialarbeiterin, auch weil in das kriminelle Netzwerk nicht selten Familienangehörige, Nachbarn oder Freunde eingebunden sind.

In den einschlägigen pädosexuellen Kreisen kursieren sogar Videofilme, in denen missbrauchte Kinder schließlich getötet werden. Manfred Paulus aus Ulm ist „Erster Kriminalhauptkommissar a.D.“ und leistet seit 15 Jahren in Osteuropa Aufklärungsarbeit in Sachen Frauen- und Kinderhandel.

Der Ermittler im Ruhestand, der auch an Hochschulen referiert, weiß, dass sexuell ausgebeutete Kinder nicht selten in Lebensgefahr schweben. Die allermeisten Tötungsdelikte in diesem Bereich seien sogenannte Verdeckungstaten: „Man will lästige kleine Zeug(inn)en loswerden“, sagt Paulus.

Beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden werden bundesweit täglich zwischen 200 und 300 Kinder bis 13 Jahre als vermisst gemeldet. Aktuell sind es 512. Zum Glück tauchen die meisten nach kurzer Zeit wieder auf. Im Jahr 2010 lag die Aufklärungsquote sogar bei über 99 Prozent: Von den vermisst gemeldeten 5733 Buben und Mädchen kamen 5676 wieder zu ihren Eltern zurück, in weiteren 34 Fällen handelte es sich um Kindesentziehung in einer juristischen Auseinandersetzung oder um unbegleitete Flüchtlingskinder.

Ein perfekter Mord?

Im Jahr 2012 galten fast 6400 Kinder als vermisst. Am Ende konnten davon 124 Schicksale nicht aufgedeckt werden. Dazu zählt auch das von Peggy. Seit die Staatsanwaltschaft Bayreuth in diesem mysteriösen Fall neue Ermittlungen aufgenommen hat, wird Peggy wieder in der Vermisstenkartei geführt.

Dass Ulvi das Mädchen vor bald 13 Jahren getötet hat, hält Cathrin Schauer von Karo e.V. heute für unglaubwürdig. Er habe wegen seiner Behinderung gar nicht die Fähigkeit gehabt, den perfekten Mord zu begehen, sagt sie.

So sieht das auch Professor Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut in Hannover. Geistig Behinderte seien an schweren Straftaten eher unterdurchschnittlich beteiligt, hat der Kriminologe ermittelt. Doch gerieten sie viel schneller als andere Menschen in Verdacht, ein furchtbares Verbrechen begangen zu haben, „weil man nicht genau versteht, wie sie ticken“, sagt Pfeiffer. Ein „erhöhtes Risiko“ bestehe für sie vor allem bei Brandstiftung — und bei Kindesmissbrauch.

Ulvi war im Urteilsspruch zur Last gelegt worden, er habe Peggy die Kehle zugedrückt, um einen sexuellen Missbrauch an ihr zu vertuschen. Das hält die Münchner Autorin Ina Jung für ein krasses Fehlurteil. In ihrem Buch „Der Fall Peggy“ zeigt sie auf, dass die Polizei — besonders die Sonderkommission Peggy II — Zeugenaussagen manipuliert und Hinweise unbeachtet gelassen hat, um den Verdacht gegen Ulvi zu verstärken.

Jung, die über sieben Jahre in dieser Geschichte recherchiert hat, hat auch die beiden Buben von damals ausfindig gemacht, die Peggy in den roten Mercedes haben einsteigen sehen. Die jungen Männer berichten jetzt davon, dass man sie fünf Wochen später unter Druck gesetzt hatte: Man habe sie damals jeweils einzeln und ohne Eltern vernommen und sie gezwungen, ihre ursprüngliche Aussage zurückzunehmen. Was dann geschah.

Die Staatsanwaltschaft in Bayreuth widerspricht nicht. Sie nennt das Buch von Jung und ihrem Co-Autoren Christoph Lemmer „eine gute Zusammenfassung der Aktenlage“.

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