„Kinder sollten keine Milch mehr trinken“
24.4.2016, 16:00 UhrFrau Schaepe, erinnern Sie sich noch an die Tage nach dem 26. April 1986, als langsam die Nachrichten über das Ausmaß der Reaktorkatastrophe in der Ukraine zu uns durchdrangen?
Karin Schaepe: Ja, ich erinnere mich sehr gut daran. Meine Tochter war damals erst fünf Jahre alt. Weil kleine Kinder keine Milch mehr trinken sollten, sind wir extra zum Nürnberger Schlachthof gefahren, wo man Milchpulver bekommen konnte. Man musste sich dafür sogar anstellen. Mein Vater, der dabei war, sagte, das sei wie nach dem Krieg gewesen. Im Kindergarten wurde außerdem der verstrahlte Sand im Sandkasten ausgetauscht.
Woher kam die Idee, Kindern aus den verstrahlten Gebieten zu helfen?
Schaepe: 1992 gab es im Bayerischen Rundfunk einen Aufruf des Strahlenbiologen Edmund Lengfeld, der in München das Otto-Hug-Strahleninstitut geleitet hat, Kinder aus der betroffenen Region zur Erholung zu uns einzuladen. Die Tochter einer Freundin hatte diesen Beitrag gehört und gemeinsam mit unserem Steiner Pfarrer die Aktion ins Rollen gebracht. 1993 kamen zunächst neun betroffene Kinder nach Stein. Ich selbst bin im zweiten Jahr eingestiegen. Seit 24 Jahren leite ich inzwischen die Initiative „Hilfe für Tschernobylkinder.“
Wie sieht diese Hilfe konkret aus?
Schaepe: Wir holen im Sommer rund 100 Kinder aus Dörfern in Weißrussland zu uns. Die Orte liegen nicht weit weg vom Unglücksreaktor und wurden durch radioaktiven Regen verseucht. Vier Wochen lang dürfen die Acht- bis 14-Jährigen bei Steiner Familien wohnen und sich erholen. Dazu trägt vor allem das gesunde, weil nicht verstrahlte Essen bei und die frische Luft. Blutwertkontrollen haben ergeben, dass sich der Gesundheitszustand bei 80 Prozent der Kinder verbessert. Sie leiden vor allem unter Konzentrationsproblemen, einem schwachen Immunsystem und schlechter Wundheilung. Die Eltern sind dankbar für unsere Hilfe, da ihnen oft die Mittel dazu fehlen.
Ist das Interesse der Öffentlichkeit 30 Jahre nach dem Unglück noch vorhanden?
Schaepe: Es ist schon ziemlich abgeflaut. Viele Menschen glauben, die Kinder hätten heute, 30 Jahre nach dem Unfall, keine Unterstützung mehr nötig. Hinzu kommt, dass die Organisatoren solcher Hilfsangebote selbst immer älter werden und es zunehmend schwieriger wird, Gastfamilien zu finden. Wir benötigen außerdem jedes Jahr 16 000 Euro Spenden, damit die Kinder zu uns kommen können.
Waren Sie denn selbst schon mal in den von der Atomkatastrophe betroffenen Gebieten?
Schaepe: Bis jetzt nicht, aber ich habe es auf jeden Fall noch vor. Ich habe schon mehrere Einladungen bekommen, doch leider musste ich sie aus verschiedenen Gründen immer ausschlagen. Viele unserer Gastfamilien waren aber schon dort und berichten, dass unsere Hilfe noch immer dringend nötig ist.
Wenn Sie spenden oder ein Kind bei sich aufnehmen möchten, können Sie sich unter der Rufnummer (09 11) 67 43 39 melden oder sich auf der Internetseite www.pg-hilfe-fuer-tschernobylkinder.org informieren.
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