Nachfahren der Rothschilds besuchen Gunzenhausen
6.7.2016, 07:29 UhrNatürlich wussten Netanel Yechieli und Tirza Routtenberg um die deutschen Wurzeln ihrer Familie. Doch Großmutter Hannah Cherlow (die Tochter von Karl Rothschild) hatte sich stets geweigert, über die Vergangenheit zu sprechen. Bis vor wenigen Monaten waren die beiden Cousins deshalb auch nie auf die Idee gekommen, der Altmühlstadt einen Besuch abzustatten. Dann allerdings bekamen sie die Erinnerungen von ihrem Großonkel Max Rothschild in die Hände. Der 2013 verstorbene Max Rothschild, ältester Sohn von Karl Rothschild, kommt in dieser 300 Seiten starken Biografie natürlich auch auf Gunzenhausen zu sprechen. Und weckte so die Neugierde seiner in Israel lebenden Verwandten.
Wie so oft hatte dann auch noch der Zufall seine Hände im Spiel. Denn Tirza Routtenberg, Dozentin für Elektrotechnik an der Hochschule in Beersheva, wurde zu einem Kongress nach Heidelberg eingeladen. Und Netanel Yechieli hatte kurz vor dem Kongress in Polen zu tun. Plötzlich war der Plan geboren, nach Gunzenhausen zu reisen. In Emmi Hetzner, die sich seit Jahren um die Geschichte der Gunzenhäuser Juden verdient macht, fanden sie eine kompetente Ansprechpartnerin, die die beiden mit offenen Armen empfing.
Beim Stadtrundgang ist nicht nur die Besichtigung des ehemaligen Familienwohnsitzes ein bedeutender Augenblick, auch die Begegnung mit Fred Loos ist ein emotionaler Moment – einer unter vielen an diesen zwei Tagen. Als kleiner Bub lebte Fred Loos mit seiner Mutter im „Fränkischen Hof“, genau gegenüber der Arztpraxis. Natürlich war er Patient bei Dr. Rothschild, Fred Loos erinnert sich sogar noch an den einen oder anderen Hausbesuch.
Steht am ersten Nachmittag die Geschichte im Mittelpunkt, so dreht sich bei der abendlichen Zusammenkunft im Gasthaus Arnold vieles um die Begegnung zwischen Juden und Christen, um religiöse und philosophische Fragen. Das ist ein ausdrücklicher Wunsch von Netanel Yechieli. Der 42-Jährige begleitet Überlebende des Holocausts und deren Nachkommen in die Orte ihrer Herkunft, nach Gunzenhausen kam er direkt aus Treblinka. Explizit sucht Netanel Yechieli den gedanklichen Austausch mit hiesigen Geistlichen, weshalb Pfarrer Matthias Knoch und Pfarrer i. R. Hartmut Kühnel mit dabei sind. Vor allem mit Knoch, der selbst schon einige Gruppen durch Israel geführt hat, ergibt sich ein intensives Gespräch über geistliche Angelegenheiten, derweil Tirza Routtenberg ihrer Nachbarin Lesley Loy Bilder ihrer Kinder zeigt.
Bewegende Momente
Aber auch in der Gruppe, zu der auch Christa und Jochen Loos, Fred und Lotte Loos sowie Franz Müller gehören, wird bei koscherem Essen über das wahre Wesen der Liebe, über Hass und über die Überwindung von Gleichgültigkeit gesprochen. Doch es ist letztendlich Pfarrer i. R. Kühnel und sein Kollege Knoch, die für den wohl bewegendsten Moment des Abends sorgen.
Kühnel und seine Frau Gertraud haben vor Jahren den entscheidenden Anstoß für die Gedenktafel am ehemaligen Schächterhaus gegeben. Ihre Intention war allerdings nicht allein die Erinnerung an die vertriebenen und ermordeten ehemaligen Gunzenhäuser Juden, sie wollten einen Schritt weiter gehen. In Dresden hatte das Ehepaar an der Kreuzkirche eine Tafel gesehen, wo von Scham und Trauer sowie von der Bitte um Vergebung die Rede war. Doch nach vielen Gesprächen und langen Diskussionsrunden findet sich am Ende auf der hiesigen Gedenktafel kein Wort davon. Weshalb Kühnel und Knoch nun die Gelegenheit ergreifen und die beiden Israelis um Vergebung bitten.
Netanel Yechieli ringt derweil um Fassung. Obwohl erst 1974 geboren, habe er sich immer als Holocaust-Überlebender gefühlt, beginnt der 42-Jährige seine ausführliche Antwort, und diese Zugehörigkeit werde noch durch seine Arbeit bestärkt. Regelmäßig suchen in Träume heim, in denen er weiß, dass seine ganze Familie in wenigen Momenten umgebracht wird. Die Beziehung zu seinen Eltern, die Beziehung zu seinen Kindern, alles ist geprägt vom Holocaust.
Er wisse nicht, warum er eigentlich nach Gunzenhausen kommen wollte, er sei dabei letztendlich seiner Intuition gefolgt. Viele in seiner Familie hätten diesen Wunsch nicht verstanden, er selbst dachte, dass es für ihn sicher furchtbar wird, die deutsche Sprache zu hören, zu lesen und mit deutschen Zügen zu fahren. Niemals hätte er mit diesem Empfang gerechnet, nicht damit, dass die Dinge so offen angesprochen werden.
Der Holocaust, erklärt Netanel Yechieli, ist das Megatrauma seines Volks und auch sein eigenes. Nun erweise sich der Besuch in Gunzenhausen für ihn persönlich als Beginn eines Heilungsprozesses. Nachdem weder Hannah Cherlow noch ihre Kinder je wieder etwas mit Gunzenhausen zu tun haben wollten, ist es die dritte Generation, die zum Schluss eine ganz unerwartete Brücke baut: „Wir fühlen uns zu Hause“, sagt Tirza Routtenberg am Ende dieses sehr emotionalen Abends.
Gestern besuchten Tirza Routtenberg und Netanel Yechieli noch den jüdischen Friedhof. Auf dem Programm stand auch noch der Besuch des Cronheimer Museums sowie des Gedenksteins in Muhr am See. Tags zuvor waren die Besucher zudem im Rathaus von Bürgermeister Karl-Heinz Fitz empfangen worden.
Die Geschichte der Familie Rothschild ist, wie die so vieler Gunzenhäuser Juden, dank der Arbeit von Emmi Hetzner mit Schülern der Stephani-Mittelschule ausführlich dokumentiert. Zu finden ist sie im Internet unter www.jl-gunzenhausen.de. Dort sind auch die Geschehnisse vom 25. März 1934, dem ersten Pogrom in Nazideutschland, ausführlich beschrieben.
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