19. Juni 1967: Über Europa zu unserer Einheit

N.W.

19.6.2017, 07:00 Uhr
19. Juni 1967: Über Europa zu unserer Einheit

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Erstmals nach zehn kühlen Regentagen schien am Samstag auch wieder die Sonne. Bürgermeister Franz Haas, der Vorsitzende des Ortskuratoriums, deutet diese Gunst des Wetters als hoffnungsvolles Symbol für den Tag der Wiedervereinigung, bei seinem Dank an die Teilnehmer der Feierstunde. Seine besondere Anerkennung galt den vielen jungen Menschen unter den Zuhörern. Es ist müßig, so sagte Franz Haas, darüber zu streiten, ob der 17. Juni Feiertag bleiben oder abgeschafft werden soll. Wer gekommen ist, habe „seinem Herzen eine Schwung zum Gedenken gegeben“ und damit den Sinn der Stunde begriffen. Wer nicht mitmachen wolle, habe auch nicht das Recht, "aufgeben" zu sagen.

Bundesminister Franz Josef Strauß versicherte der Politiker Franz Haas: "Heute steht Nürnberg geschlossen vor Ihnen." Für seine Arbeit im Finanzressort wünschte er viel Glück, "denn ihr Erfolg kommt uns allen zugute".

Kanzler-Brief keine Kapitulation

"Der 17. Juni ist kein zweiter Vatertag", erklärte Strauß zu Beginn seiner einstündigen Rede. Er bleibe Gedenktag und werde nicht aufgeben, auch wenn er das "Seelenleben der Machthaber" in Ost-Berlin störe. Der Brief des Bundeskanzlers an den Staatsratsvorsitzenden Stoph dürfe nicht als Kapitulation vor der "normativen Kraft des Faktischen" oder der "abstumpfenden Kraft der Gewöhnung" verstanden werden.Das deutsche Volk sei gegen seinen Willen geteilt worden: "Die Bundesregierung versucht jetzt nur, alles zu tun, um menschliche Erleichterungen und einen nationalen Zusammenhalt zu erreichen, bis die geschichtlichen Umstände eine Einheit in Frieden und Freiheit erlauben."

19. Juni 1967: Über Europa zu unserer Einheit

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Den Wert der Freiheit ermesse nur der, der sie nicht mehr hat. In diesem Zusammenhang kam Strauß auf die Anti-Schah-Kundgebungen zu sprechen und erklärte, die 159 Ermordeten an Mauer und Stacheldraht seien Anlaß zu Dauerdemonstrationen. Beim Besuch eines befreundeten Staatsoberhauptes wäre mehr politische Disziplin angebracht gewesen. Akademische Freiheit könne nicht bedeuten, das Ansehen der Bundesrepublik systematisch herabzusetzen.

Der Redner räumte landläufige Vorstellungen vom reichen "Onkel im Westen" beiseite und zollte den 17 Millionen im anderen Teil Deutschlands für ihre großartigen Leistungen höchstes Lob. Während die Bundesrepublik die drittstärkste Industriemacht der Welt geworden ist, hat die DDR den siebten Platz erreicht. Beide stehen jedoch in ihren Machtblöcken wirtschaftlich auf der zweiten Position. "Auch darin liegt ein Stück der Problematik der Wiedervereinigung", erklärte Franz Josef Strauß.

"Hier wie drüben wohnen Deutsche und Europäer und nicht auf der eine Seite der homunculus sowjeticus und auf der anderen der Kapitalist." Mit diesen Vergleichen wandte sich der Minister gegen pseudomoralische Rechtfertigungen der Funktionäre von drüben, die in Wirklichkeit "echte Reaktionäre" seien. In einer Zeit europäischen Denkens schwebte Ulbricht ein neuer Kleinstaat kommunistischer Prägung vor. "Wir aber wollen Europa!"

In einem weitgespannten Rückblick schilderte Strauß den tragischen Zerfall des Erdteils, auf den die Welt einst blickte. Sichtbar wurde das Auseinanderbrechen am 1. August 1914, der Tiefstpunkt war am 8. Mai 1945 erreicht. Die Zukunft sei in Jalta und Potsdam ohne die Europäer gestaltet worden, auch wenn Churchill dabei gewesen war. „Und wo war die Stimme Europas in der jüngsten Nahost-Kriese?“, rief Strauß. Der Krieg habe gezeigt, wie fragwürdig Bündnisse und Sicherheitsgarantien werden.

"Ein neuer geschichtlicher Prozeß muß die Untergangsperiode von 1914 bis 1945 wieder gut machen", lautete die Schlußfolgerung des Ministers. Die Stunde Europas sei angebrochen. Wenn erst der westliche Teil zueinander gefunden habe, könne seine Anziehungskraft auf die Länder des Ostblocks nicht ausbleiben. "Auch Polen, Tschechen, Ungarn sind Europäer", gab Strauß zu bedenken. Darin sieht er im Atomzeitalter die Chance einer künftigen deutschen Einheit, auch wenn die Trennung noch weiter 22 Jahre oder noch länger dauern sollte.

Wohl noch nie wurde Franz Josef Strauß aus Nürnberg mit so viel Beifall verabschiedet wie an diesem 17. Juni 1967.

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