28. Juni 1967: Praktikum und Schule

N. W.

28.6.2017, 07:00 Uhr
28. Juni 1967: Praktikum und Schule

© Gerardi

Am schlechtesten fallen die Prüfungen nach dem ersten Studienhalbjahr aus: 40 v. H. oder zwei von fünf Studierenden fallen durch. Dies erfuhren gestern die Nürnberger SPD-Landtagsabgeordneten Liselotte Seibel, Ferdinand Drexler, Bertold Kamm, Alfred Sommer und Leonhard Heiden sowie der Sachbearbeiter im kulturpolitischen Arbeitskreis der Landtagsfraktion, Willi Schneider, Ingolstadt, bei einem dreieinhalbstündigen Besuch in der Ingenieursschule.

Mit dem Leiter der Anstalt, Oberbaudirektor Friedrich Lauck, seinem Stellvertreter, Baudirektor Udo Brandt, und dem Vorsitzenden der Dozenten an bayerischen Ingenieurschulen, Oberbaurat Hans Bedall, berieten die Parlamentarier, welche Gesichtspunkte in einem neuen Ingenieurschulgesetz berücksichtigt werden müßten.

Oberbaudirektor Lauck umriß die Zulassungsbedingungen, die seit 60 Jahren unverändert sind. Inzwischen hat aber längst das Elektronen-Zeitalter begonnen, die Ausbildung der Ingenieure muß darauf abgestellt sein, die Technik wird vorangetrieben. Die Konkurrenz auf dem Weltmarkt wächst und die deutschen Fachschulingenieure geraten innerhalb der EWG ins Hintertreffen, weil ihr Ausbildungssystem dort dem von Technikern gleichgestellt wird.

Ein neues Gesetz müßte von diesen Tatsachen ausgehen. Im "Vorfeld" des Ingenieurstudiums böte sich eine Lösung an, die Berlin mit Erfolg praktiziert. Dort werden Wissenslücken, die während des zweijährigen Praktikums zwangsläufig entstehen, durch einen Schultag während der Woche vermieden. Auf bayerische Verhältnisse übertragen, plädierte Ferdinand Drexler ebenfalls für einen berufsbegleitenden Vorunterricht, der mit einem Examen abschließen müßte, das die "Akademie-Reife" bestätigen und die Vorurteile in der EWG ausräumen könnte.

Drexler fand auch die Zustimmung der Dozenten und seiner Kollegen, als er eine strenge Auswahl der Praktikantenbetriebe vorschlug und sich damit für ein Praktikantenamt aussprach, wie es Technische Hochschulen und außerbayerische Ingenieurschulen bereits kennen. Würden all diese Überlegungen berücksichtigt, so wäre die Zahl der "Versager" im ersten Semester nicht so groß und die Dozenten müßten nicht mehr zu Beginn des Studiums längst vergessenen Stoff ins Gedächtnis zurückrufen.

Ob man derart vorgebildeten Ingenieurkandidaten den Übergang in eine Technische Hochschule bereits nach dem dritten Semester oder erst nach dem Examen gestatten soll, solle der Praxis überlassen bleiben. Grundsätzlich wollen Ingenieurschulen keine Stätten der Forschung sein. Sie fühlen sich mit ihren Einrichtungen aber sehr wohl in der Lage, der Industrie zweckgebundene Entwicklungsfragen beantworten zu können. "Praxisnahe Aufgaben beflügeln Dozenten und Studierende", argumentierte Oberbaudirektor Lauck.

Liselotte Seibel bedauerte, daß nur rund ein Prozent der Studierenden Mädchen seien, während ihr Anteil in anderen Ländern 10, 15, ja bis zu über 30 v. H. betrage. Sie führte dieses Mißverhältnis auf veraltete Anschauungen zurück, daß Mädchen weniger technisch begabt sind. Dieses Vorurteil müsse beseitigt, ein neuer Kurs in der Berufsberatung und in den Schulen eingeschlagen werden.

Ein Rundgang bestätigte den Abgeordneten, daß Nürnbergs Polytechnikum über moderne Ausbildungsstätten verfügt, obwohl der Ausbau nach Ferdinand Drexlers Worten „in verantwortungsloser Weise verzögert wurde“. Es fehlen noch ein Unterrichtsgebäude für den Maschinenbau und ein Verwaltungstrakt. Bis 1969, so hofft man, sollen sie stehen.

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