11. Januar 1968: "Muss mein Kind turnen?"

W. S.

11.1.2018, 07:23 Uhr
11. Januar 1968:

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P. hatte als 14-jähriger Bub beim Schulsportfest 1960 als Torwart einen Nierenriß erlitten, 4.500 Mark für den Aufenthalt im Krankenhaus, Diätkosten und Arzthonorare ausgegeben und nun auch noch die Prozeßkosten von 1.500 Mark in drei Instanzen aufgebürdet bekommen.

"Muß ich meine Kinder am Turnunterricht teilnehmen lassen?" oder "Wer trägt das Risiko bei möglichen Unfällen?" – mit diesen und ähnlichen Fragen wird unsere Redaktion von Eltern überhäuft, seit sie Rolf. Ps. in den Kliniken und vor den Gerichten veröffentlicht hat.

Die städtische Schulbehörde kann die Unruhe unter den Eltern gut verstehen. Sie verweist jedoch darauf, daß es sich bei Rolf. P. um einen bedauerlichen Einzelfall handelt. Der junge Mann von 21 Jahren, der als Folge des Sportunfalls eine ganze Niere verloren hat und heute noch unter Kopf- und Kreuzschmerzen leidet, war als Pflegesohn der Hausfrau Ulrike. R. nicht krankenversichert, als ihm das Mißgeschick im Tor widerfuhr.

Die Stadt zahlt 42.000 DM im Jahr

"Wenn normalerweise ein Schülerfall passiert, wird zunächst die Krankenkasse in Anspruch genommen", sagt Schulrat Kurt Gemählich, der Leiter des Nürnberger Volksschulwesens. Die Mehrzahl aller Kinder ist mit ihren Eltern krankenversichert; nur ein verschwindend kleiner Bruchteil bildet eine Ausnahme von dieser Regel. "P. war nicht in der Kasse; das hat seinen Fall so außerordentlich schwierig gestaltet", meint Kurt Gmählich.

Die Stadt Nürnberg hatte seit eh und je – ganz freiwillig – eine Unfallversicherung für alle Volks- und Berufsschüler abgeschlossen, damit im Fall eines Falles jene Beträge abgedeckt sind, die von der Krankenkasse nicht aufgebracht werden. Nach dem folgenschweren Zusammenprall des damals 14-jährigen Torwarts mit einem gegnerischen Stürmer wurden die Prämien für dies Versicherung verdoppelt, nach dem neuen Volksschulgesetz – es macht seit Jahresanfang 1967 die Schülerversicherung zur Pflichtaufgabe der Gemeinden – sogar verdreifacht. Die Stadt zahlt jetzt jährlich neun Pfennig pro Kopf der Bevölkerung an die Versicherung, also Jahr für Jahr die stattliche Prämie von 42.000 Mark.

Nur schwacher Trost

Für Rolf. P. und seine Pflegemutter Ulrike. R. ist das freilich ein schwacher Trost. Nach vier langwierigen Operationen, die den jetzigen Elektro-Installateur im Betrieb seines Onkels noch immer zu leichterer Arbeit verurteilt, bekam der junge Mann von der Versicherung 1.500 Mark für die Heilbehandlung, die ihm selbst 4.500 Mark gekostet hatte.

Aber auch heute müßte er wie alle anderen Schulkinder die Risiken eines Sportfestes und des Turnunterrichts eingehen, denn Schulrat Kurt Gmählich sagt klipp und klar: "Turnen ist Pflichtfach!" Alle Schüler haben am Turnunterricht teilzunehmen, wenn sie nicht kraft ärztlichen Attests davon befreit sind.

Kurios bleibt jedoch, daß der Freistaat Bayern bei Unfällen keinen Pfennig zu bezahlen braucht, obwohl er die Kinder zum Turnen verpflichtet. Er kann nur zur Kasse gebeten werden, wenn der beteiligte Lehrer fahrlässig oder gar vorsätzlich schuldhaft gehandelt hat. In diesem Falle hätte der Staat für alle Kosten aufkommen müssen. Rolf. P. aber hatte das "Pech", daß keinen Lehrer an seinem Mißgeschick auch nur ein Gränchen Schuld traf.

Rolf. P. hat das Pech, ein Bayer zu sein. Wäre er als Hamburger Schüler im Tor verletzt worden, er hätte sein Geld für Krankenhauskosten und Arzthonorare samt einer Entschädigung längst anstandslos bekommen.

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