11. November 1967: Wünsche auf der Warteliste
11.11.2017, 07:00 UhrWer sich da schon in der Untergrundbahn fahren sah, in einem Bett des zweiten Krankenhauses gehegt und gepflegt fühlte oder auf Schleppkähnen aus aller Welt an den Kais im Kanalhafen zu spazieren glaubte, ist mit einem Schlag auf den harten Boden der Tatsachen zurückgeholt worden. Prioritätenliste heißt das Stück Papier, das hochfliegende Pläne vorerst als ferne Zukunftsmusik erscheinen läßt.
So sehr sich die Stadtverwaltung bemüht hat, ihre Wünsche dem schmalen Geldbeutel anzupassen, so wenig wollte sie dem Bürger all seine Illusionen rauben. Keiner wagt beispielsweise bislang offiziell zu sagen, was die Spatzen von den Dächern pfeifen: der Europakanal – mit vielen Vorschußlorbeeren bedacht – erreicht Nürnberg erst 1972 statt wie versprochen 1970.
Die Stadt muß dennoch zwei Jahre länger auf den Anbeginn einer zweiten wirtschaftlichen Blüte warten, denn der Staatshafen Nürnberg wird natürlich auch erst 1972 fertig sein. Solange er aber nur auf dem Papier steht, werden sich an ihm auch keine Industriebetriebe und Handelsunternehmen ansiedeln. Andererseits ist die Stadt über diese Verspätung gar nicht sehr erbost, weil sie in den nächsten drei Jahren nicht allzu tief in die Tasche zu greifen braucht.
Bis 1970 sind beim jetzigen Stand der Dinge nur 18,5 Millionen DM des städtischen Anteils von 38,5 Millionen an der Gesamtsumme von über 64 Millionen nötig. So gelegen dieser Aufschub kommt, so wenig kann die Stadt dafür: der Weiterbau des Kanals hängt buchstäblich an den beiden Eisenbahnlinien nach Ansbach und München, für die neue Brücken nötig sind.
Bundesverkehrsminister Georg Leber, der bei der festlichen Hafenweihe sicher nicht fehlen dürfte, wird sich aber ohnehin mit seinem nächsten Besuch noch Zeit lassen können. Die Einladung zur Jungfernfahrt der U-Bahn im Jahre 1970, die ihm beim ersten Rammstoß für die Strecke Langwasser – Bayernstraße im März dieses Jahres in die Hand hinein versprochen worden ist, war ein wenig voreilig, wie sich jetzt erweist. Im Finanzplan für begonnene Bauten sind 1975 Mittel für den ersten Untergrundbahn-Abschnitt vorgesehen, zu dem auch die Hochbahnbrücken in der Fürther Straße gerechnet werden.
Inzwischen hat sich das Baureferat eine neue Strecke einfallen lassen: es strebt für die Linie von Langwasser zur Stadt den vorläufigen Endpunkt Hasenbuck statt Bayernstraße an. Wann immer die Männer vom Bau ihre Pläne ändern, wissen sie das dem Volke mit guten Gründen schmackhaft zu machen. Referent Heinz Schmeißner bezeichnete die neue Strecke, die eine Tages über den Aufseßplatz zum Bahnhof weiterführen soll, als kürzer und damit preiswerter.
Trotzdem: wenn die Nürnberger beim Bau der U-Bahn nach ihrem Finanzplan fahren, werden die ersten Züge mit fünf Jahren Verspätung durch die Tunnels donnern.
Von solchen Pannen zeigte sich der Stadtrat nur wenig überrascht, als er am Mittwoch in die Prioritätenliste und ihre Folgen eingeweiht wurde. Er entdeckte noch ganz andere Schönheitsfehler, die vorerst mangels Masse in der Kasse nicht repariert werden können. So manches Modell, das in der Vergangenheit die Phantasie zu Spekulationen beflügelt hatte, wird Staub ansetzen müssen, ehe es Stein auf Stein in größerem Maßstab ins Freie verpflanzt werden kann.
Am schmerzlichsten zeigten sich die Volksvertreter davon berührt, daß das zweite Krankenhaus in der Südstadt in keiner der drei Dringlichkeitsstufen erwähnt ist, obwohl sich darin so manche Pläne finden, für die auch kein Baubeginn genannt ist. Der Klinik-Komplex der Zukunft nahe der Langwasser-Stadt konnte nicht in die Prioritätenliste aufgenommen werden, weil sie sonst überflüssig geworden wäre. "Der Brocken von 80 bis 100 Millionen Mark hätte alles andere erstickt", erklärt Baureferent Heinz Schmeißner, denn die Projekte aller drei Dringlichkeitsstufen erfordern insgesamt „nur“ einen Aufwand von 82,5 Millionen Mark.
Schien es noch vor ein paar Jahren so, als müsse die 6. Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg in ihrer Raumnot ersticken, so haben Professoren und Studenten gelernt, geduldig auszuharren. Nach einem langen Tauziehen steht jetzt wenigstens das Grundstück für einen Neubau fest, aber die Gebäude selbst lassen wohl noch ein Weilchen auf sich warten. Nach optimistischen Schätzungen wird bis zum Jahresende 1968 mit dem Abschluß des städtebaulichen Wettbewerbs, 18 Monate später mit den Einzelplänen für das Projekt gerechnet. Aber auch in diesem Falle scheint die Stadt bei ihrer ernsten finanziellen Lage mit einem blauen Auge davongekommen zu sein, denn wären die Pläne eher fertig, müßte sie auch eher bares Geld auf den Tisch des Bauherrn Staat legen.
"Bevor ich in zweieinhalb Jahren in den Ruhestand trete, möchte ich die Grundsteinlegung für ein neues Fundament der Universitätsstadt Nürnberg noch miterleben", sagte Heinz Schmeißner, der seinen Optimismus bewahrt hat, obwohl so manche Idee aus seinem Referat beim „Streich-Konzert“ für die Prioritätenliste wie eine Seifenblase geplatzt ist. Der Lokalpatriot comme il fault mußte sogar seinen Lieblingsgedanken hintan stellen, die Stadtmauer zwischen Ludwigs- und Mohrentor frei von allen Kriegsnarben als unauslöschliches Werk seiner Amtszeit zu hinterlassen. „Dieses letzte Stück hätte ich gerne fertiggemacht, denn es stinkt zum Himmel“, meinte er. Aber auf Jahre hinaus ist dafür kein Pfennig vorgesehen.
Die Diskussionen der letzten Tage haben es überdeutlich gezeigt: es geht langsamer voran. Das Nürnberg von 1970 wird einige Schulen und Straßen, ein Hallenbad und eine Müllverbrennungsanlage mehr haben als das Nürnberg von 1967. Die Stadt wird jedoch kein Utopia sein, das sich manche in mehr als kühnen Träumen ausgemalt haben.
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