2. Juni 1968: Vom "Wäppeln" zum "Gummitwist"
2.6.2018, 07:00 UhrEr ist gegenwärtig Schlager auf den Straßen und Schulhöfen. Wie so viele Spiele tauchte er irgendwo auf und gehörte schon nach kurzer Zeit zum Repertoire der Kinder einer ganzen Stadt.
Die Mütter wissen ein Lied zu singen von der Erfindungsgabe ihrer Sprößlinge: oft genug läßt sie die verzweifelte Suche nach dem Gummiband im Nähkorb ahnen, daß die Tochter einen neuen Verwendungszweck dafür gefunden hat. Die anderen köstlichen Spielsachen liegen verschmäht in der Ecke.
Phantasie ist grenzenlos
Monatelang war der Sprößling im Milchladen sehr zufrieden, wenn er Bonbons bekam, weil die Pfennige knapp waren. Plötzlich zieht er eine Schnute und versucht, jedes Kupferstück zu ergattern, das er der Mutter abschmeicheln kann. Das "Wäppelfieber" ist bei ihm und seinen Kameraden ausgebrochen.
Trotz ständigen Fortschritts in der Spielzeugindustrie, pädagogischer Welle und des Vorwurfs, den Kindern werde das Spielen im eigentlichen Sinne abgenommen, die Phantasie müsse verkümmern, straft der Erfindungsgeist der Kleinen die Besserwisserei der Großen immer wieder Lügen.
Sicher hat der lackglänzende Tretroller mit Ballonreifen das quietschende Klappergestell aus Holz abgelöst, sicher können die Puppen heute Mamma sagen und die Windeln naß machen, was früher kleine Puppenmütter nur in ihrer Einbildung erlebten. Auf leisen Gummirollen rauschen jetzt auch die Rollkunstläufer in Miniaturausgabe daher, aber die Autos der Väter haben ja auch nichts mehr mit den Vorkriegsvehikeln zu tun.
Ein Stück Wäscheleine als Seil, Gummiband als Meterware sorgfältig geknotet, ein Säckchen Ton oder Glasschusser, ein Stück Kreide und ein Scherben, ein Gummi- oder Lederball – all diese Kleinigkeiten reichen jedoch einer ganzen Horde Knirpse noch immer für ein wahrlich nachmittagfüllendes Programm.
Das Springseil lebt noch
Keines der drei Mädchen auf dem Gehsteig, dessen ehemalige imponierende Breite durch Parkbuchten eingeengt wurde, stolpern über das Springseil, über das zwei von ihnen die dritte springen lassen. Übung macht auch bei ihnen den Meister. Gnädig lassen sie die Schnur zu Boden, wenn Passanten vorbeikommen. Störungen müssen auf engem Raum eben in Kauf genommen werden.
Das Reifentreiben und die buntbemalten Holzkreisel dagegen sind ganz und gar ein Opfer der vielen Autos und schmalen Gehsteige geworden. Denn wenn der Reifen endlich in gerader Bahn lief, mußte er schon wieder angehalten werden, weil die nächste Kreuzung kam. Da ging der ganze Spaß am Spiel verloren.
Der Ball hat alle Wandlungen und Veränderungen unbeschadet überstanden. In behüteter Umgebung ist die Kugel aus Leder oder Gummi umstrittener Mittelpunkt wilder Gemeinschaftsspiele. Bei Völker- oder Jägerball tun sich Buben und Mädchen gleichermaßen hervor. "Fußball is nix für Weiber", erklärt kategorisch ein Steppke von kaum zwölf Jahren seiner Schwester, die am Rande des selbstgesteckten Feldes steht. Sie darf höchstens mal dem Ball nachlaufen, wenn er ins Aus geflogen ist. Einige Plätze Nürnbergs bieten sich geradezu als Paradies für den Meisternachwuchs an: die Wöhrder Wiese, die Grünflächen auf dem Stadiongelände, Innenhöfe, eingerahmt von großen Wohnblöcken.
Hinter den "Zehn Negerlein" oder einfach der "Zehnerreihe" verbirgt sich ein sorgfältig ausgetüfteltes Programm von Kunststückchen mit dem Ball. Dafür haben die Buben allerdings ebenso wenig übrig wie für "Häuslhupfen" oder "Himmel und Hölle". Auch beim "Gummitwist" sind die Herren der Schöpfung in der Minderzahl, fungieren sie ausnahmsweise als sachverständige Schiedsrichter, wenn die Mädchen immer und immer höher, erst über das eine gespannte Band, dann über beide, schließlich in die Mitte hopsen. Die kleinen Damen haben genügend Puste, um sich wie ein Gummiball den ganzen Nachmittag dabei zu vergnügen.
Das Spiel mit Einsatz, mit Gewinn oder Verlust besaß schon für unzählige Kindergenerationen seinen Reiz und hat ihn bis heute nicht verloren. Die Schusser und das "Wäppeln" haben verschworene Freunde auseinander- und wieder zusammengebracht, sie haben Tränen fließen lassen, Stolz und Neid hervorgerufen, und immer noch rollen die kleinen Ton- und Glaskugeln überall dort, wo sich eine Kuhle buddeln läßt, immer noch fallen die Kupferpfennige mit einem leisen "ping" an die Hauswand und immer noch werfen die besten "Wäppler" die Geldstücke in die Höhe und hoffen auf das Wappen, um kassieren zu können.
Im Kindergarten, in der Tagesheimschule und im Hort leben noch all die hübschen Kreis- und Gemeinschaftsspiele mit den klangvollen Namen. Bis auf den heutigen Tag fragen die Kinder mit Begeisterung: "Kaiser, wieviel Schritte darf ich geh'n?" oder "Wer hat Angst vorm schwarzen Mann". Sie verwandeln sich in den "Ochs am Berg" oder in die "Blinde Kuh". Sie lernen ganz nebenbei Verkehrsregeln, spielen Schutzmann, dürfen Ampeln bedienen und können zu Hause um so sicherer ihren Zeitvertreib den Verkehrsverhältnissen anpassen.
Die Stadt bietet den Kindern weniger Platz, aber kinderfeindlich ist sie nicht. Spielplätze, Pegnitzwiesen, Schulhöfe, auf denen am Nachmittag die Kleinen spielen dürfen, und der eigene Erfindungsgeist der Buben und Mädchen sorgen dafür, daß die Fantasie nicht verkümmert.
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