25. November 1967: Kleine Gemeinde im Rampenlicht
25.11.2017, 07:00 UhrDas Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) drehte im Hause Wielandstraße 6, das den jüdischen Mitbürgern als gesellschaftlicher Treffpunkt und Hort ihres Glaubens verblieben ist, einen Film, der viele Zuschauer darüber informieren wird, wie verfolgte und gequälte Menschen 22 Jahre danach in einem demokratischen Gemeinwesen denken, fühlen, arbeiten, wie sie ihre religiösen Feste feiern, Kontakte zu christlichen Nachbarn suchen und pflegen – oder als Fußballfreunde ihrem „Club“ zujubeln.
Der zwischen dem ZDF und dem 2. Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde, Arno Hamburger – dem Nürnberg-Verteidiger im CBS-Zerrfilm über die Deutschen – vereinbarte Bericht ist ein guter Grund, die jüdischen Einrichtungen in Nürnberg vorzustellen und einige Mitglieder der Gemeinde zu befragen, deren Schicksal repräsentativ für die 242 Seelen zählende Glaubensgemeinschaft ist.
Über 9.000 Juden lebten vor der Verfolgung in Nürnberg. Sie besaßen am Hans-Sachs-Platz ihre Synagoge, ein Verein innerhalb der Gemeinde unterhielt eine zweite an der Essenweinstraße, die „Frankenführer“ Julius Streicher schon im August 1938 – noch vor der Kristallnacht – abbrechen ließ. Das Zentrum an der Wielandstraße diente damals den israelitischen Krankenpflegerinnen als Heim.
Feldwebel schwingt den Kochlöffel
Heute ist die Gemeinde auf 242 Mitglieder zusammengeschrumpft. Nürnberger, die schreckliche Jahre in Konzentrationslagern überlebten, die die Bitternis der Emigration zu spüren bekamen und in ihre Heimatstadt zurückkehrten, Juden, die vor 1933 in anderen deutschen Städten daheim waren und sich nach dem Krieg in Nürnberg ansiedelten, jüdische Ostflüchtlinge, die sich hier eine neue Existenz schufen: aus diesen Menschen setzt sich die Gemeinde zusammen.
Geblieben ist ihr nur das Haus in der Nähe des Friedrich-Ebert-Platzes, unauffällig wie das kleine Schild am Eingang. Doch das unscheinbare Äußere trügt. Im Inneren herrscht reges Leben. Acht Jahre lang leiteten Max und Lucie Nossen gute Dienste als Heimleiter-Ehepaar. Erst vor kurzem wurden sie von Felix und Miriam Lustig abgelöst. Seitdem kann man bei der Kultusgemeinde eine Sprache hören, wie sie reiner nicht auf dem Kurfürstendamm zu Hause ist. Frau Miriam kann, obwohl sie mit ihrem Mann 20 Jahre in Israel lebte, ihre Berliner Herkunft nicht verleugnen. Felix Lustig „regiert“ dagegen in der Küche. Der Oberstabsfeldwebel, der bis vor einigen Monaten für die Militärküche in Ober-Galiläa verantwortlich war, schwingt den Kochlöffel zur Freude der Insassen des Altersheimes, das im Hause untergebracht ist.
„Unser A und O gilt den Alten. Wir versuchen denen, die so viel durchmachen mußten, das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten, erklärt Arno Hamburger, der 2. Vorsitzende. Und er fügt hinzu: „… um einen geringen Bruchteil der Leiden und Strapazen wieder gutzumachen.“ Doch in diesem Zentrum werden nicht nur alte Menschen umhegt. Hier findet auch der jüdische Aussiedler aus dem Osten ein offenes Ohr und Hilfe. Hier entfaltet sich das religiöse und gesellschaftliche Leben.
Im Betsaal treffen sich die Gemeindeglieder zum Gottesdienst, beispielsweise am späten Freitagnachmittag zum Empfang des Sabbats. Auf Hebräisch verliest der Kantor – ein Amt, das seit drei Jahren der Schweizer Hermann Herz bekleidet – ein Kapitel aus den Büchern Moses, die Buchstabe für Buchstabe mit der Hand auf kostbare Thora-Rollen geschrieben sind. Bei größeren Festen dient als Kulturraum der Saal, in dem zwei- oder dreimal im Jahr festliche Bälle veranstaltet werden und auf dessen Bühne die Jugend ihre schauspielerischen Talente übt: zur Zeit ein Stück für „Chanukka“, das alljährlich im Spätherbst an den Sieg der Makkabäer über die Griechen erinnert.
Kantor Hermann Herz, in dessen Händen der Religionsunterricht und die Jugendarbeit liegt, hat also viel zu tun. Darüber hinaus hat sich der 40jährige ein wichtiges Ziel gesetzt. Er will zum gegenseitigen Verständnis der Juden und Christen beitragen und den Wall abtragen helfen, der die Kultusgemeinde ohne ihre Schuld bis vor nicht allzu langer Zeit umgeben hat. „Ja, die Gemeinde führte mehr oder weniger einen Dornröschenschlaf“, erklärt der Kantor. In der letzten Zeit hat – um beim Bildnis zu bleiben – die Dornenhecke freilich schon viele Löcher bekommen.
„Ich habe außerordentlich viele Kontakte, angefangen bei der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, über die Volkshochschule bis hin zum Rundfunk“, freut sich der Kantor, dessen Tenor bei den Freitag-Gottesdiensten im Südwest-Funk zu hören ist. „Und die besten Beziehungen haben wir zur Evangelisch-Lutherischen Landeskirche, zum Sozialpfarrer, zum Jugendpfarrer“, ergänzt Hermann Herz, der – da tut es ihm der 2. Vorsitzende Arno Hamburger gleich – an Podiumsdiskussionen teilnimmt und Vorträge hält, weil man sich auf diese Weise näherkommen kann.
Gemeinsame Vorstandsarbeit Zur Gemeinde gehört wieder wie vor der NS-Zeit der Sportverein und die Kultusgemeinde braucht selbstverständlich eine Verwaltung, die sich mehrere Köpfe teilen: Ehrenvorsitzender Adolf Hamburger (der Vater), Arno Hamburger (der Sohn), Dr. M. Majngarten als 3. Vorsitzender und nicht zuletzt der 1. Vorsitzende Paul Baruch, dem die Funktion eines „Innenministers“ zugeschrieben wird und der Einrichtungen betreut, von der gewiß weit mehr Nürnberger Notiz genommen haben als vom Gemeindezentrum. Ihm unterstehen die beiden israelitischen Friedhöfe.
Der alte Friedhof an der Bärenschanzstraße mit seinen 3.000 Gräbern wird schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr benutzt. Dafür begegnet der Besucher des Friedhofes an der Schnieglinger Straße auf Schritt und Tritt der jüngsten Vergangenheit. Gewiß, die Spuren der Bomben und Luftminen sind beseitigt. Aber unübersehbar sind die fehlenden Bronze-Urnen, die von den Grabsteinen abmontierten Metall-Buchstaben. Im „totalen Krieg“ mußten sie von den Juden eigenhändig abgenommen und abgeliefert werden, samt den Helmen und Säbeln, die den Gefallenen des ersten Weltkrieges als Zier auf den Grabhügel gelegt wurden.
Für die Gefallenen der Jahre 1914 bis 1918, die in fremder Erde ruhen, entstand auf dem 24.000 Quadratmeter großen Friedhofsgelände ein Denkmal. 180 Namen – je 90 zu beiden Seiten – sind in den Stein eingemeißelt. Später hat das Mahnmal eine Tafel bekommen, die an die Menschen erinnert, die von 1933 bis 1945 wegen ihres Glaubens umkamen. Hinter der Platte verbirgt sich eine 17 Meter lange, beidseitig beschriebene Rolle. 1.628 Namen. 1.628 Nürnberger, von denen nur wenige auf ihrem Friedhof einen Platz bekamen. „1934 im Konzentrationslager gestorben“, steht dann beispielsweise auf dem Grabstein oder – nicht weniger erschütternd – „deportiert und in den Tod gefunden“. Die Angehörigen ehren einen Toten, von dem niemand weiß, wie er ums Leben gekommen ist.
Für viele ehemalige jüdische Mitbürger, die heute verstreut in aller Herren Ländern leben, ist das Grab der Angehörigen die einzige Verbindung zur früheren Heimat. Aber nicht nur deswegen betrachtet die Kultusgemeinde den Friedhof als besondere Stätte. Für die Daheimgebliebenen knüpfen sich daran Erinnerungen an ihre schwerste Zeit, als sie in den Zimmerchen der Aussegnungshalle zusammengepfercht leben mußten, ständig in der Furcht, abgeholt zu werden. Hier sah Arno Hamburger im Mai 1945 seine Eltern wieder, am Tor begegnete er als erstem Bekannten Paul Baruch: „Er ist so weiß geworden wie die Wand, als er mich erkannte.“
Diese Zeit ist überstanden, wenn sie auch nicht vergessen ist. Zwar haben Arno Hamburger und Paul Baruch die Kultusgemeinde mit viel Energie und Opfern wieder aufgebaut. Zwar werden heute – auch über eine jüngst gegründete kleine Zeitung – die Verbindungen zu ehemaligen Mitgliedern aufrechterhalten und die Kunde vom Leben in Nürnberg in alle Welt getragen. Aber so wie früher wird es nicht mehr werden.
„Wir sind zwar wenige, aber – soweit ich es sehen kann – werden wir doch von der überwiegenden Mehrheit der übrigen Bevölkerung als zu Nürnberg gehörig betrachtet“, meint Arno Hamburger und schließt: „Vor 1933 waren wir eine Religionsgemeinschaft wie alle anderen. So wird es – nach allem, was geschehen ist – nicht mehr werden. Aber wir werden ein Bestandteil Nürnbergs bleiben.
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