28. April 1967: Elektronik steuert Güterwagen
28.4.2017, 07:00 UhrSeit sieben Jahren entwerfen die zuständigen Fachleute der Bundesbahn Pläne, berechnen Rentabilitätsverbesserungen und zerbrechen sich die Köpfe, wie sich ein fünf Kilometer langes und 2.500 Meter breites ideales Gelände in den modernsten Verschiebebahnhof verwandeln läßt. Die Voraussetzungen dafür sind denkbar günstig, aber die Kosten, die zwei automatische Speicherstellwerke mit allem Drum und Dran verschlingen würden, liegen nach bisherigen Berechnungen bei 40 bis 50 Millionen Mark.
Dies ist eine im ersten Moment erschreckend hohe Summe, aber der Aufwand würde sich im Lauf der Jahre bezahlt machen. Deshalb zunächst ein Vergleich zwischen dem derzeitigen Arbeitsablauf und den Vorstellungen für die Zukunft. In Nürnberg, dem Knotenpunkt von sieben Hauptstrecken, kommen täglich rund 170 Güterzüge mit etwa 7.200 Wagen an. Rund 140 Züge mit über 6.000 Wagen verlassen das Rangierbahnhofgelände nach den notwendigen Umstellungen in alle Himmelsrichtungen. Die verbleibende Differenz sind Wagen, die in Nürnberg entladen oder neu beladen werden.
Alle Güterzüge, gleichgültig aus welcher Richtung sie eintreffen, werden in die Einfahrtzone in Höhe Zollhaus geleitet. Von dort rollen sie über einen Höhenunterschied von rund 25 Meter ohne Schubkraft von Maschinen zu den Ausfahrtgleisen, vorbei an einem Hauptstellwerk mit vier hydraulischen Zulaufbremsen. Je nach Bestimmungsort stellt der Oberrangiermeister in der Hydraulik-Zentrale die Weichen, damit die Wagen oder Wagengruppen auf die tiefer liegenden Richtungsgleise gelangen können.
Dazu benötigt die Zentrale aber viele Helfer: vor dem Ablaufberg pro maschinenlosem Zug etwa drei oder vier Bremser, die in bestimmten Abständen auf den Güterwagen stehen und die Handbremsen bedienen, um das enorme Druckgewicht des rollenden Zuges aufzuhalten. Unterhalb des Ablaufbergs stehen 16 Mini-Stellwerke – dieser nicht geringschätzig gemeinte Ausdruck drängt sich beim Anblick der kleinen Hütten einfach auf –, deren Besatzungen dafür sorgen, daß die einzelnen Wagen das jeweils gewünschte von 106 Ausfahrtgleisen auch tatsächlich erreichen.
Doch damit nicht genug: über jeden anrollenden Gütertransporter wacht, mit einem Anweisungszettel in der Hand, ein Hemmschuhbremser, der einen Eisenklotz auf die ihm zugeteilte Schiene legt, damit der Koloß bei seiner Talfahrt samt Fracht keinen Schaden erleidet. Und ganz hinten, wo die einzelnen Güterzüge zur neuen Fahrt zusammengestellt werden, verhindern wiederum aufmerksame Bahnbedienstete den Aufprall neu anrollender Wagen auf ihre Vorläufer.
Der Nürnberger Rangierbahnhof, um die Jahrhundertwende erbaut und 1903 in Betrieb genommen, kann sich über mangelnde Weitsicht seiner Planer wahrlich nicht beklagen. Inzwischen sind jedoch fast 65 Jahre und zwei Weltkriege über ihn hinweggegangen. Man hat ihn auch immer wieder modernisiert, zum letzten Male 1958 mit dem Einbau der Zulaufbremsen, aber inzwischen hat die Technik Computer entwickelt, deren Prinzipien sich auch auf einen Verschiebebahnhof anwenden lassen.
Diese Chance möchte Bundesbahn-Oberrat Dipl.-Ing. Otto Baumgärtel, zuständiger Dezernet bei der Bundesbahndirektion Nürnberg, nützen. Er baut in sein Zusatzprogramm längst bewährte Gleisbremsen ein, die das Kurbeln der Handbremser vor dem Ablaufberg erübrigen. Ähnliche Bremsen gibt es auch für die ausrollenden Wagen auf den Abgangsgleisen.
Die Automation wäre mit zwei „Computer-Stellwerken“ im Rangierbahnhof zu erreichen. Beide würden ihre Arbeitsanweisungen über Lochstreifen erhalten. Das vollautomatische Einfahrtstellwerk würde den Raum Langwasser bis zum Ausfahrtverteiler bedienen, das andere würde die Ausfahrt bis in den Raum Eibach regeln. Die Kosten, 40 bis 50 Millionen, sind bereits genannt, die Bauzeit würde mindestens vier Jahre betragen.
Die personellen Auswirkungen beurteilt Bundesbahnrat Konrad Hirschmann, Vorsteher des Nürnberger Rangierbahnhofs, wie folgt: zur Zeit verfügt er über rund 1.000 Mitarbeiter, dazu über rund 200 Mann Zugbegleitpersonal. Die Rationalisierung würde den derzeitigen Personalstand um etwa ein Viertel verringern, die Leistung des Bahnhofs um etwa zehn v. H. steigern und die allgemeinen Kosten erheblich senken.
Ein bemerkenswertes Erlebnis zum Schluß: während sich Bildberichterin und Berichterstatter die Zukunftspläne des Nürnberg Rangierbahnhofs erklären ließen, wurden Experten einer Firma für Spielzeug- und Modelleisenbahnen über das Gelände geführt. Ihr Interesse gilt den gleichen Problemen. Ob ihr Computer-Spielzeug-Stellwerk früher als das „echte“ im Nürnberger Rangierbahnhof funktionieren wird?
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