30. März 1968: Leben im Teufelskreis

F. H.

30.3.2018, 07:00 Uhr
30. März 1968: Leben im Teufelskreis

© NN

Es sind die Mitglieder der „Anonymen Alkoholiker“ (AA). Diese Gruppe, die seit sieben Monaten in Nürnberg besteht, kennt keine Verbote und zeitlich begrenzten Kuraufenthalte. Sie gibt nur Ratschläge und Anregungen. Wer zu ihr stößt, muß lediglich den aufrichtigen Wunsch mitbringen, endlich Schluß zu machen mit dem ständigen Griff zur Flasche und „trocken“ zu bleiben. Die Erfahrungen sind ermutigend. In der Gemeinschaft Gleichgesinnter gelingt den meisten der überraschende Schritt zur Dauer-Enthaltsamkeit.

Die verblüffende Heilmethode, um die sich zuvor Ärzte und Fürsorger vergeblich bemüht hatten, beruht auf der einfachen Erkenntnis: es ist keine Schande, krank zu sein. Es ist aber eine Schande, nichts dagegen zu tun.
Die AA-Idee wurde aus Amerika importiert. Als Initiator des Nürnberger Ablegers gilt Obermedizinalrat Dr. Günter Glatthaar. Der bekannte Nerven- und Fürsorgearzt suchte lange nach einem „Partner“. Im September 1966 fand er in ihn in dem 46jährigen Adi, der dem Alkohol verfallen war und trotzdem die Kraft hatte, seine dunkle Vergangenheit abzuschütteln und ein neues Leben zu beginnen. Dieser Mann knüpfte die ersten Kontakte zu anderen AA-Gruppen und baute jene Organisation auf, von der Dr. Glatthaar heute voller Stolz sagt: „Sie hat eine große Lücke im Trinker-Fürsorgesystem geschlossen“.

„Eine schreckliche Zeit“

„1952 lebte ich in Scheidung. Von da an ging es mit mir steil abwärts“, gesteht Adi. Im Alkohol suchte er Trost und Mut. Obwohl er immer wieder Abstinenz-Pausen einlegte, hielt er seinen Vorsatz nicht durch. Der Rausch wurde bei ihm zu einem Dauerzustand. Er unterzog sich freiwillig einer Kur. Aber nach der Entlassung marschierte er schnurstracks in das nächste Wirtshaus und wußte nicht mehr, wie er nach Hause kam. „Es war eine schreckliche Zeit“, gesteht er, „ich konnte nur noch im Suff arbeiten.“
Jetzt rührt er kein Glas mehr an und überzeugt mit seinem Beispiel andere Schicksalsgefährten. Beim wöchentlichen Meeting bespricht er mit den übrigen Mitgliedern deren Probleme, die auch seine eigenen sind. „Indem wir anderen helfen, helfe ich mir auch“, ist sein Grundsatz. An Arbeit fehlt es ihm nicht. Täglich liegen zahlreiche Briefe im AA-Postfach Nr. 1511, die alle beantwortet werden müssen. Ein wichtiges Mittel im Kampf an der Alkoholfront ist das Telefon. Dazu Adi: „Da ruft nachts der Otto aus Heilbronn an. Reumütig gesteht er, daß er am „kippen“ ist. Wenn gutes Zureden unter Freunden nichts hilft, fahre ich am nächsten Tag zu ihm. Es darf keinen Rückfall geben.“

Adis erster AA-“Kunde“ in Nürnberg war die 42jährige Lisa. Die 42jährige Frau hat ein Martyrium hinter sich. Mit 16 Jahren morphiumsüchtig, verfiel sie später dem Alkohol. Bevor sie morgens zur Arbeit ging, nahm sie schon einen kräftigen Schluck aus der Pulle. Im Geschäft ging es weiter. In ihrem Schreibtisch, in der Garderobe und selbst auf der Toilette hatte sie Flaschen versteckt. Sie wechselte ihre Arbeitsplätze wie ihr Hemd, wurde wiederholt fristlos entlassen und durfte sich schließlich zu Hause nicht mehr sehen lassen. Lisa: „Ich schwindelte das Blaue vom Himmel herunter, rechnete nur noch in Flaschen und verzehrte tubenweise Zahnpasta, um meine Fahne zu verschleiern.

Als „heulendes Elend“ und „blau wie ein Veilchen“ stieß sie zur AA. Ihr erster Wunsch: „Zum Abschluß will ich noch einmal trinken.“ darauf Adi: „Sauf dich voll, wenn du es unbedingt willst.“ Diese Aufforderung schreckte Lisa auf. Zum erstenmal in ihrem Leben hatte ihr jemand etwas erlaubt, was ihr stets kategorisch verboten worden war. „Das gab mir zu denken“, erinnert sich die Frau, die rückhaltlos über ihre Vergangenheit plaudert.

Und hier liegt der Schlüssel des Erfolgs. Die Anonymen Alkoholiker bekennen sich offen zu ihrer Krankheit. „Ich habe jetzt den Mut zur Wahrheit“, sagt Lisa, „und darauf bin ich stolz“. Das Gefühl, daß sie in ihrer Nähe Menschen weiß, die ihr helfen und die sie verstehen, bewahrt sie vor einem Rückfall. „Früher wurde ich weggeworfen, heute werde ich gebraucht.“
Die AA-Gruppe, die keine politischen oder religiösen Ambitionen hat und nur von Spenden existiert, will keinem Nichtalkoholiker das Trinken verbieten. Ihre Mitglieder wollen nur nüchtern bleiben – 24 Stunden am Tag. „Wir sind und bleiben Alkoholiker“, sagt Adi. „Wir können unsere Krankheit nur zum Stillstand bringen, nicht heilen. Wir bewegen uns ständig auf Glatteis. Aber wir lernen, auf dieser dünnen Decke sicher zu gehen.“

Die Männer und Frauen, die früher Alkohol in rauen Mengen verzehrten, greifen heute zu Säften und Kaffee. Als sie sich in der Faschingszeit zu einem Ball trafen, meinte ein Scherzbold: „Wenn plötzlich der Schnaps in den Saal strömen würde, den wir alle in unserem Leben schon hinter die Binde gegossen haben, müßten wir alle jämmerlich ersaufen ...“

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