Gesichtserkennung: "Big Brother" ist nicht mehr fern
23.9.2017, 05:55 UhrGallwitz ist ausgewiesener Experte für Mustererkennung. Aktuell arbeitet der Lehrstuhl-Inhaber an einer Software, die auf Infrarot-Luftbildern von Solaranlagen defekte Solarzellen identifiziert. Nach den gleichen Grundprinzipien funktioniert auch die Gesichtserkennung, die bekanntlich derzeit in einem (sehr umstrittenen) Feldversuch am Berliner Bahnhof Südkreuz getestet wird.
Auf einem (in der Regel zweidimensionalen) Bild vermisst die Software die Abstände zahlreicher Punkte – unter anderem die zwischen Nasenspitze und Ohren oder die zwischen Kinnspitze und Augen. Die dabei errechneten Unterschiede zwischen den Gesichtern verschiedener Menschen sind so markant wie Fingerabdrücke, sagt Gallwitz.
Idealtypisch lässt sich ein in der Öffentlichkeit gescanntes Gesicht problemlos mit der Foto-Vorlage vergleichen. Wobei die Entwickler hier noch mit Problemen kämpfen. Denn je seitlicher das Gesicht eines Passanten aufgenommen wird, je schlechter die Beleuchtung und/oder die Auflösung der Aufnahme ist, desto größer wird die Fehlerquote.
Gescheiterter Feldversuch
Vor zehn Jahren ließ das einen Feldversuch im Auftrag des Bundeskriminalamtes (BKA) in Mainz scheitern. Ganz ähnlich wie jetzt in Berlin wurden damals freiwillige Probanden engagiert, deren Gesichter bei der Nutzung einer bestimmten Bahnhofrolltreppe von Kameras erfasst wurden. Die Software erkannte jedoch nur bis zu 60 Prozent dieser "gesuchten" Personen. Mit einer Fehlerquote von 1:1000: Bei etwa jedem tausendsten Fall gab das System falschen Alarm. Dem BKA war diese Quote deutlich zu schlecht, der Versuch wurde abgebrochen.
Seither hat sich die Technik "dramatisch weiterentwickelt", sagt Prof. Gallwitz. Die heutigen Kameras sind erheblich lichtstärker und produzieren Bilder mit deutlich höherer Auflösung. Gleichzeitig hat die Entwicklung von Deep-Learning-Software – Stichwort: Künstliche Intelligenz – "dramatische Fortschritte" gemacht. Inzwischen ist der Computer bei der Gesichtserkennung "so gut wie der Mensch" sagt Gallwitz, aber „noch weit weg von Perfektionismus“. Aktuell dürfte die Fehlerquote bei etwa 1:10.000 liegen, schätzt der Mustererkennungs-Experte.
Noch immer viel zu hoch: Kaum auszudenken, wenn ein System im Echteinsatz in einem so belebten Bahnhof wie Berlin-Südkreuz bei jedem 10.000. Passanten Terroristen-Alarm auslösen würde. Zumal die Erkennung eines Terrorverdächtigen per se ein "seltenes Ereignis" mit vielen Fehlalarmen darstelle, berichtet Gallwitz: "Das ist eine mathematische Gesetzmäßigkeit."
3-D-Technik eröffnet noch mehr Möglichkeiten
All dies könnte sich allerdings schon in näherer Zukunft ändern. Mit dem "iPhone X" hat Apple bekanntlich einen 3-D-Sensor vorgestellt (siehe dazu auch Kasten links). Dieses "Face ID" vergleicht das Gesicht vor der Kameralinse mit einem (nur in diesem Mobiltelefon abgespeicherten) 3-D-Modell, um festzustellen, ob der rechtmäßige Besitzer des Geräts Zugang begehrt. Das könnte eines Tages auch die Raumüberwachung à la Berlin revolutionieren. Zumal es Gallwitz zufolge schon heute möglich ist, aus einem Kopf in einem Videofilm ein entsprechendes 3-D-Bild zu errechnen.
Ob 3-D-Software oder nicht: Wohin die Reise in Deutschland bald führt, hängt von den Entscheidungen der Politik ab. Ein Zugriff von Gesichtserkennungssystemen auf die bei den Meldebehörden gespeicherten Passfotos würde den "absoluten Überwachungssaat" ermöglichen, sagt Wissenschaftler Gallwitz. Vor allem dann, wenn die Systeme miteinander vernetzt würden und auch Fotos aus sozialen Netzwerken wie Facebook scannen würden. Spätestens dann "ist das Recht auf Anonymität in der Öffentlichkeit verschwunden".
Das ist keineswegs Utopie: Erst im Juli dieses Jahres gab die Koalition im Bundestag grünes Licht für einen großen Schritt in diese Richtung, berichtete Süddeutsche.de vor ein paar Tagen: Der Bundesnachrichtendienst (BND), der Militärische Abschirmdienst (MAD) und die Verfassungsschützer in Bund und Ländern dürfen künftig „automatisiert und reibungslos“ auf alle Passfotos zugreifen. Dasselbe gilt für Zoll- und Steuerfahnder.
Gesetzgeber muss Überwachung regeln
Deshalb appelliert Prof. Gallwitz an den Gesetzgeber, der Entwicklung Schranken aufzuerlegen. Im Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Privatsphäre gelte es politisch einen Kompromiss auszuhandeln, wie viel Anonymität der Bürger künftig noch haben dürfe.
Welch dramatische Gefahren einer liberalen Gesellschaft sonst eines Tages drohen könnte, verdeutlichen Studien im Ausland. An der renommierten Stanford University haben Wissenschaftler eine Software entwickelt, die aus Gesichtsproportionen angeblich ablesen kann, ob ein Mensch homosexuell orientiert ist. Dahinter steht die – vollkommen unbewiesene – Annahme, die Geschlechtsorientierung werde durch Hormon-Einflüsse im Mutterleib geprägt. Florian Gallwitz bewertet diese Berichte „skeptisch“. Doch in den Händen eines rassistischen Regimes könnte eine solche Software gleichwohl fatale Folgen haben.
Noch beunruhigender ist eine chinesische Studie, die im November 2016 veröffentlicht wurde. Dort wurde mit den Passfotos Hunderter Gefängnis-Insassen experimentiert, die jeweils lange vor der Straffälligkeit entstanden waren. Die Software der chinesischen Wissenschaftler konnte den Angaben zufolge die Fotos derjenigen Menschen identifizieren, die aktuell in Haft saßen. Sollte sich das bestätigen, dann wären echte Vorhersagen möglich. Damit, so Prof. Gallwitz, "hätten wir ein echtes Problem".
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