Was hat ein Schädel mit der Familie Tucher zu tun?
8.11.2018, 12:42 UhrWer schon einmal nach einer Nadel im Heuhaufen suchte, der ahnt, wie klein die Hoffnung war, die Ivonne Burghardt hatte. Die Mitarbeiterin des Sächsischen Landesamts für Archäologie war nach Franken gereist, auf der Suche nach Nachfahren von Johann Wengemeyer, ein Rechtsanwalt, der vor mehr als 500 Jahren auch Kanzleischreiber und städtischer Beamter in Nürnberg war. Ein DNA-Test, durchgeführt an Wengemeyers Kindeskindern, sollte Gewissheit bringen in einem Fall, der sich liest wie von einem Hobby-Kriminalautoren erdacht: Zwei Männer erschlagen in Sachsen einen angesehenen, reichen Advokaten. Die Mordbuben werden geschnappt. Unter Folter gestehen sie, dass sie im Auftrag handelten – erteilt wurde dieser angeblich von einem vornehmen Ritter, der in seiner Heimatstadt Nürnberg Ratsherr ist. So jedenfalls geht eine Legende in Annaberg, wonach aus der wohlhabenden Reichsstadt außerdem viel Geld in die Stadt kam, um diesen Mord zu sühnen.
Bis zum vergangenen Jahr war nicht klar, ob an dieser von Generation zu Generation weitergetragenen Geschichte tatsächlich etwas dran war. Dann sollte der Parkplatz neben dem Polizeirevier in Annaberg-Buchholz bebaut werden und weil die Archäologen wussten, dass von 1512 bis 1540 an dieser Stelle ein Franziskanerkloster mit katholischer Kirche stand, untersuchten sie den Untergrund.
Auf der Spur eines Kriminalfalls
Tatsächlich stießen sie auf insgesamt 28 Gräber, die 500 Jahre lang unberührt geblieben waren. In einem davon – die Historiker gaben diesem Grab die Nummer 20 – lagen die Knochen eines Mannes: Dieser war bei seinem Tod zwischen 57 und 67 Jahre alt, sind sich Experten sicher, er war 1,65 Meter groß, hatte gute Zähne und war wohlgenährt. Ein Angehöriger der Oberschicht. In seinem Schädel jedoch klafft ein 6,5 Zentimeter großer Spalt, vermutlich beigebracht von einem Beil. Die Wissenschaftler waren einem Kriminalfall auf die Spur gekommen. Lag in Grab Nummer 20 vielleicht das Mordopfer aus der alten Annaberger Sage?
Bald darauf entdeckte die Historikerin Ivonne Burghardt in einer Art mittelalterlichem Gerichtsbuch einen interessanten Vorfall aus dem Mai 1514. Das in Leder gebundene, vergilbte Buch, das im Annaberger Stadtarchiv aufbewahrt wird, listet Kriminalfälle auf, die in der Stadt von 1500 bis 1539 geschahen. Säuberlich mit Federkiel geschrieben, ist aus den Vernehmungsprotokollen zu erfahren: Wiwolt Tiermann und Hensel Unger töteten den Geschäftsmann Johann Wengemeyer, einen dreifachen Familienvater aus Nürnberg. Sie lauerten ihm am Marktplatz auf, verfolgten und erschlugen ihn in der Klosterstraße von hinten. Unter "gütlicher und peinlicher" Befragung sagten die beiden, der Nürnberger Ratsherr Andreas Tucher habe den Mord in Auftrag gegeben, 400 Gulden und fünf Gulden Spesen habe er dafür geboten. Eine enorme Summe, für die ein Handwerker im Mittelalter acht Jahre lang arbeiten musste.
Ehrverletzung und ungeklärte Umstände
Ob die Aussagen der gedungenen Mörder stimmen, ist ungewiss. Fest steht, dass der Nürnberger Rat den Mordauftrag immer geleugnet hat. Tiermann und Unger starben am 28. Juli 1514. Der Scharfrichter vollstreckte das Todesurteil, indem er ihnen Arme und Beine mit einem großen Wagenrad zertrümmerte, ihre gemarterten Leiber auf ein Rad flocht und sie dem Verfall und den Tieren überließ. Doch Ivonne Burghardt wollte mehr erfahren als das, was im "Urfehdebuch" steht. Die Knochen aus Grab Nummer 20 könnten der Schlüssel zur Klärung dieses Falles sein.
Das Nürnberger Stadtarchiv beherbergt das Archiv der Familie Tucher, die etwa 10.000 Einheiten belegen mehrere Hundert Meter Regal. Darunter befindet sich zum Beispiel auch das berühmte Große Tucherbuch, das wohl prunkvollste Geschlechterbuch der Spätrenaissance und beeindruckender Beweis für Reichtum und Einfluss der Patrizierfamilie Tucher. Die Historikerin aus Sachsen suchte im Stadtarchiv nach Spuren, die Wengemeyer in Nürnberg hinterlassen hat, erinnert sich Walter Bauernfeind, der Leiter der Abteilung Amtliches Archivgut. Tatsächlich ist in alten Gerichtsbüchern zu lesen, dass der Advokat Johann Wengemeyer aus einer bekannten Familie stammte, dass er städtischer Beamter und Kanzleischreiber war: Er formulierte Urteile und Verträge, machte Abschriften. Wie soll dieser Mann den tödlichen Zorn eines Ratsherrn auf sich gezogen haben?
"Es könnte sein, dass Wengemeyer ehrverletzend war", sagt Bauernfeind. Grundlos sei dies alles sicher nicht geschehen. Er betont aber: "Wir wissen nichts über die Umstände!" In den mittelalterlichen Vernehmungsprotokollen hatten die beiden Mörder gesagt, Wengemeyer habe "falsche Briefe geschrieben" und sei aus Nürnberg geflüchtet.
Wer lag in Grab Nummer 20?
Noch hat Ivonne Burghardt nicht alles ausgewertet, was sie in Stadtarchiv und Staatsarchiv zusammentrug. Und auch die Tucher’sche Kulturstiftung hat die Historikerin in ihrer Arbeit unterstützt, obwohl sich am Ende der Recherchen herausstellen könnte, dass der Vorfahr Andreas Tucher schändlicherweise einen Mord in Auftrag gab. Denn im Vordergrund stehe das "generelle Bestreben der gesamten Erforschung der Tucher’schen Familiengeschichte", so Burghardt.
Ob den Tuchers nun ein Bösewicht zugerechnet werden muss, will die Historikerin noch nicht verraten. Zwar hat sie keinen Nachfahren Wengemeyers gefunden und kann sich daher auch nicht vollkommen sicher sein, dass Knochen und Schädel aus Grab Nummer 20 die Überreste von Johann Wengemeyer sind. Sie kündigt aber für 2019 eine "umfassende wissenschaftliche Publikation" an und deutet an, welche Richtung ihre Untersuchungen genommen haben: "Der Fall läuft auf die Schuldigkeit des Nürnberger Rates hinaus."
Kein Schuldeingeständnis
Dieser zahlte im Jahr 1518 nach der Verhandlung des Falles Wengemeyer auf dem Reichstag in Augsburg 5000 Gulden an den Sachsenherrscher Herzog Georg den Bärtigen – was aber kein Schuldeingeständnis sein solle, betonte der Rat damals ausdrücklich. Der Herzog soll außerordentlich erzürnt darüber gewesen sein, dass der von langer Hand geplante Mord ausgerechnet in seiner Metropole geschah. Wengemeyers Witwe Barbara erhielt 400 Gulden. Die Annaberger Kirche St. Anna bekam einen neuen Altar, ein Meisterstück des in Nürnberg ausgebildeten Malers Hans Hesse.
Die alte Sage behauptet, dass dieser prächtige Flügelaltar eine Sühnestiftung war. Eine Wiedergutmachung der Nürnberger für den Mord an Johann Wengemeyer.
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