Chor bekennt „Farbe“
25.7.2011, 15:24 UhrDer Name „musica-viva“ ist dabei Programm: Die Sänger wollen schwer zugängliche Musik der Gegenwart „lebendig“ machen. Unter dem Dirigat von Ingrid Kasper schaffen sie ein eindrucksvolles „Klanggemälde“. Die „Farben“ drängen sich jedoch dank nuancierter Dynamik keineswegs auf, sondern wirken verhalten und wohltuend.
Weite Flächen der „Leinwand“ leuchten im „Gelb“ der Dissonanzen. Die zeitgenössischen Komponisten wollen weg von der funktionalen Tonalität. Tonale Bezugspole und harmonische Regeln scheinen weitgehend außer Kraft gesetzt.
Durch Hinwendung vom Ton zum Klang malt der Chor einen „roten“ Farbklecks in die Mitte. In Marek Jasinskis „Alleluja“ liefert er verwegene, strahlende Akkorde.
Die erweiterte Tonalität geht mit rhythmischer Betontheit Hand in Hand. Dieser „pinke“ Musikstil, der schon fast zum Expressionismus neigt, provoziert durch zunehmende Entfesselung der Rhythmik.
Die Sänger organisieren das motorische Element auf künstlerische Weise. Sie thematisieren so die Technisierung der Gegenwart. Auch in „Cantus tristis“ und „Cantus gloriosus“ von Josef Swider vereinen sie eindringliche Harmonien und Elegie. Moderne Komponisten sind jedoch auch offen für die tonalen Techniken des Barock und der Klassik. Felix Mendelssohn-Bartholdy hatte es im 19. Jahrhundert vorgemacht. Das Werk Bachs wurde zu einem Fixstern in seinem musikalischen Weltbild. Jörg Fuhr jedenfalls hüllt Mendelssohns „Präludium und Fuge G-Dur“ in ein adeliges „Blau“.
Sein Chorstück „Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für“ lechzt dann nach romantischer Gefühlswärme. Geradezu hymnisch ertönt das Lied „Bleib bei uns, Herr“ von William Henry Monk (1823—1889). Um den intensiven Klangeindruck zu verstärken, verteilen sich die Sänger im Kirchenraum.
Die Komponisten des 20. Jahrhunderts verschmelzen traditionelle Kategorien mit modernen Gestaltungsmitteln. In Heinz Martin Lonquichs „Altenberger Halleluja“ verdichtet sich glasklare, „gregorianische“ Einstimmigkeit filigran. Die fließende Melodik schwingt sich dabei zu einer beachtlichen hohe Lage.Der norwegische Komponist Knut Nystedt gilt als „bewahrender Fortschrittler“. Die Grundlage seines Chorstücks „Sing and rejoice“ ist ein alter Bibeltext. Die beschwingte Rhythmik erinnert jedoch an einen Gospel.
Auch die Sehnsucht nach idyllischem „Grün“ ist im 20. Jahrhundert spürbar. Cyrillus Kreek verarbeitet in seinen Werken estnische Volksweisen. Der Chor interpretiert sein Stück „Onnis on inimene“ als Gebet voller Pietät.
Doch die Konturen sind verwischt: Die „grüne“ Idylle ist nur schwer von „grauer“ Mystik abzugrenzen. Die Sänger machen die Musik in „Veni, sancte spiritus“ von Milosz Bembinow zur meditativen Ausgangsposition. Jörg Fuhr neutralisiert die Buntheit durch Stücke an der Orgel.
Er greift dabei frühere Epochen auf. Die Hymne „Pange lingua“ zeichnet sich durch barocken Glanz und kontemplative Ruhe aus. Ebenfalls aus Frankreich stammte Louis Marchand (1669—1732). Er wirkte bereits mit vierzehn Jahren als Organist. Jörg Fuhr verbindet in seinem „Grand Dialogue“ verschiedenartige kleine Sätze miteinander. Den Anfang bilden schwelgende Akkorde. Für Gegensätze sorgen das „Lentement“ in Moll und das tänzerische „Legerement“.
Von Frankreich geht es nach England. Im „Marcia Eroica“ von Charles Villiers Stanford (1852—1924) schöpft Jörg Fuhr die klanglichen Möglichkeiten der Orgel voll aus. Die gefällige Melodik orientiert sich an Brahms und Bruckner. Jörg Fuhr entfacht eine temperamentvolle „Farbexplosion“. Das musikalische Kunstwerk hätte mehr Zuhörer verdient.KATRIN KALB