Pottenstein im April 1945: Die Amerikaner rücken an
15.4.2015, 14:29 Uhr„Bis Donnerstag den 12. April herrschte ... allgemein Ruhe“, heißt es in der Aufzeichnung, die unmittelbar nach Kriegsende der kommissarisch eingesetzte Bürgermeister Franz Eichenmüller „über die Vorkommnisse des 15. und 16. April 1945 in der Stadt Pottenstein“ gemacht hat. Gegen den Willen der Bevölkerung errichtete die im Ort stationierte SS zwei Gefechtsstände zur Verteidigung gegen die heranrückenden Amerikaner. Der Volkssturm wurde in Bereitschaft versetzt, verfügte allerdings nur über zehn Gewehre und hatte zudem keinerlei Munition.
Am Tag darauf begann die Auflösung der Flossenbürger KZ-Außenstelle in der Mager-Scheune. Die 360 Häftlinge mussten sich zum Abmarsch aus dem Lager bereit halten. Beim Verladen des Gepäcks verschafften sich einige von ihnen „mit Hilfe der Bevölkerung“ Zivilkleider und kamen sogar in den Besitz von Pistolen.
Gegen Abend flüchtete der SS-Standartenführer Hans Brand (1879 bis 1959) „als erster mit sechs Begleitmannschaften ..., zwei vollbeladenen LKW und drei PKW“ aus Pottenstein – angeblich, um seine Geheimakten an einem sicheren Ort zu bringen. In Wirklichkeit aber setzte er sich schon in Bayreuth vom Transport ab, suchte kurz seine Wohnung auf und fuhr allein nach Simbach am Inn ab.
Ab Samstag, 14. April, verschärfte sich zusehends die Situation. Die Gerüchte verdichteten sich, dass die Amerikaner die Stadt unter Beschuss nehmen würden, falls sie nicht kapitulieren und die Panzersperren öffnen sollte. Aus Angst vor Luftangriffen und Meldungen über heranrückende US-Panzer versteckte sich tagsüber der „größte Teil der Bevölkerung“ in Luftschutzkellern oder nahen Höhlen.
In seinem Buch „Touristenidylle und KZ-Grauen – Vergangenheitsbewältigung in Pottenstein“ schildert Peter Engelbrecht, dass die KZ-Häftlinge am Nachmittag gegen 17 Uhr den Befehl erhielten, unter dem Lagerkommandanten Wenzel Wodak (1909 bis 1948) über Pegnitz in ihr Stammlager Flossenbürg abzumarschieren. Sie kamen aber nur bis Willenreuth, kehrten hier um und übernachteten beim Elbersberger Wasserwerk.
Von da aus ging es am nächsten Morgen zurück nach Pottenstein, aber nicht ins Lager, sondern auf eine „Anhöhe über Pottenstein“, „am Rande eines Waldes oben auf dem Felsen ... weit genug entfernt ... von den SS-Unterkünften auf der Bernitzleite. Mit den relativ besten Möglichkeiten für eine Flucht, wenn Gefahr in Verzug sein sollte“. So schildert es Wilhelm Geusendam (1911 bis 1987), der Lagerälteste.
Erschießungs-Kommando war unterwegs
Das war schon am Nachmittag der Fall. Die Deutschen unter den Häftlingen wurden aussortiert und erhielten den Befehl, zur SS-Kompanie am Bernitz abzumarschieren und hier gegen die Amerikaner zu kämpfen. Geusendam befürchtete das Schlimmste für die übrig gebliebenen 300 Ausländer und versuchte den Kommandanten umzustimmen. Der aber reagierte barsch und brüllte: „Halt die Klappe. Das Erschießungskommando ist unterwegs.“
Da war plötzlich ganz aus der Nähe Maschinengewehrfeuer zu hören. Panik brach aus. Geusendam schrie: „Alles weg, die Felsen runter!“ und sah dann, wie die SS-Posten als erste sprangen, weil sie dachten, die Amis seien da. Er stürzte wie die anderen Häftlinge und die Wachtposten den steilen Hang hinab ins Püttlachtal, versteckte sich im Wald und blieb hier „drei Tage und drei Nächte“ lang, bis alles vorüber war. Tatsächlich überlebten alle 360 Häftlinge, bis auf einen polnischen Sanitäter, der an einer Panzersperre erschossen wurde.
Am späten Nachmittag formierte sich in Pottenstein unter der Führung des Zahnarzts Krawutschke Widerstand gegen weitere Verteidigung der Stadt. Gegen „einzelne Parteimitglieder und gegen den lebhaften Protest“ einer im „Goldenen Anker“ untergebrachten Sanitätsabteilung aus Coburg wurde „die ganze Stadt weiß beflaggt“. Der Ortsgruppenleiter und Bürgermeister Hans Dippold (1900 bis 1975) gestand nach einer „erregten Aussprache“ ein, machtlos gegenüber den SS-Wachtposten zu sein.
Nach Eichenmüllers Aufzeichnungen sorgte Fritz Löhr in der Nacht zum Montag für den Abbau der Panzersperre am Langen Berg, während der Zahnarzt Krawutschke zusammen mit einem Begleiter namens Maas und dem KZ-Häftling Lorenz Ritter Kontakt mit den Amerikanern bei Kirchenbirkig aufnahm.
Das US-Kommando, „bestehend aus zirka 25 Panzern, Panzerspähwagen und anderen Fahrzeugen“, hatte „anhand genauer Karten“ bereits die Route für den Einmarsch festgelegt und marschierte am frühen Morgen des 16. Aprils ohne Gegenwehr über den Langen Berg in Pottenstein ein, wo Ortsgruppenleiter Dippold die Stadt den Amerikanern übergab. Noch am selben Tag verhafteten die Besatzer den Gendarmeriemeister Egidius Wehrsdorfer, der – wie Zeitzeugen berichteten – „aus seiner Vorliebe für die Nationalsozialisten zu Kriegszeiten keinen Hehl“ gemacht hatte, mit dem KZ-Lager aber außer einigen Vernehmungen von Häftlingen „nichts zu tun“ hatte.
„Aus Angst und Erregung über die kommende Zeit“, wie Bürgermeister Eichenmüller vermerkte, erhängte sich am Tag darauf Wehrsdorfers Frau (47 Jahre) in der Dienstwohnung der Polizeistation. Mit ihr suchte auch ihre Tochter Lydia (25 Jahre) zusammen mit ihren beiden Kindern – Karin (3 Jahre) und Klaus (ein Jahr) – den Freitod. Ihr Abschiedsbrief, der in maschinenschriftlicher Abschrift im Staatsarchiv Bamberg überliefert ist, zeugt von der Verzweiflung, in der sich die Familie befand.
Bitte um Gnadenschuss für den Papa
Die 25-Jährige war Witwe des SS-Hauptsturmführers Horst Vetter, der als Bataillonschef der berüchtigten 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“ 1944 in Italien gefallen war. In ihrem Brief bat sie „die amerikanische Besatzungsbehörde unseren Papa mit dem Gnadenschuss zu erledigen und uns fünf gemeinsam in ein Loch zu legen.“ Sie sah sich mit ihrer Familie allein gelassen, sich verraten und hoffte darauf, dass der „Herrgott“ die „Schmach und Behandlung“ an denjenigen vergelten werde, die den „geliebten Papa in das Elend gebracht haben. Ich habe meine Kinder selbst umgebracht aus Verzweiflung, denn ein Weiterleben ist für uns unmöglich. ... der Herrgott wird mir diese Tat verzeihen.“
Es war eine Kurzschlussreaktion; denn Egidius Wehrsdorfer wurde nach wenigen Monaten aus der Internierungshaft entlassen, konnte aber nicht in seine Dienstwohnung zurückkehren, weil sie geplündert und von ehemaligen KZ-Häftlingen in Besitz genommen war.
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