Auf Weltreise im Dienste der Wissenschaft

26.1.2016, 18:46 Uhr
Auf Weltreise im Dienste der Wissenschaft

© Foto: KUS-Projekt

Angst, seekrank zu werden. Hoffnung, dass der Sturm schnell vorüberzieht. Scham, der zu sein, dessen verlorener Pulli an Bord versteigert wird. Freude, wenn Delfine im Wasser auftauchen. Stolz, dass Schiff alleine steuern zu dürfen.

All diese Gefühle und noch viele mehr erleben die 34 Jugendlichen, die zurzeit sechs Monate lang an Bord des Segelschiffs „Thor Heyerdahl“ von Kiel in die Karibik und wieder zurückfahren. Thomas Eberle erforscht ihre Eindrücke und Emotionen und wie die Reise sie verändert. „Wenn ich mit den Eltern spreche, betonen sie immer wie wertvoll diese Erfahrung für die Entwicklung ihrer Kinder war“, sagt der Professor. „Wir wollen herausfinden, ob das nur ihr subjektiver Eindruck ist, oder ob sich die persönlichen Veränderungen tatsächlich messen lassen.“

Eberle und sein Team am Lehrstuhl für Schulpädagogik mit Schwerpunkt Mittelschule in Nürnberg untersuchen, ob sich Schüler, die ein halbes Jahr auf einem Schiff leben, lernen und arbeiten anders, schneller oder sogar besser entwickeln als Kinder in einem normalen Klassenzimmer. Daraus wollen sie Erkenntnisse ziehen, die jeder Lehrer im Schulalltag gebrauchen kann. Sie erforschen, welche Bedingungen zu einem guten Unterricht führen und wodurch Jugendliche eine positive Persönlichkeit entwickeln.

Auf Weltreise im Dienste der Wissenschaft

„Rein zeitlich gesehen haben die Zehntklässler auf dem Schiff weniger Unterricht als zu Hause“, sagt Eberle. „Trotzdem konnten bislang alle nach dem Schuljahr auf See in die elfte Klasse aufrücken.“ An Bord lernen die Schüler, sich selbst zu organisieren, ihre Lernzeit effektiv zu nutzen und sich Neues selbst oder gegenseitig beizubringen.

Nautik und Navigieren

Auf der ersten Etappe, in den vier Wochen von Kiel bis Teneriffa steht nur Nautik auf dem Stundenplan. Die Schüler lernen das Schiff kennen und übernehmen alle Aufgaben an Bord vom Wachdienst über den Ausguck, das Segelsetzen, Rudern und Navigieren bis hin zum Putzdienst und Kochen für die insgesamt 50-köpfige Mannschaft.

Während der Atlantiküberquerung beginnt dann der Schulunterricht im „Klassenzimmer unter Segeln“. Er orientiert sich am bayerischen Lehrplan der zehnten Klasse mit den Fächern Mathematik, Biologie, Physik, Geschichte, Politik, Wirtschaft, Geografie, Englisch, Spanisch, Deutsch und auch Kunst und Musik. „In dieser Zeit fährt die Hälfte der Schüler einen Tag lang das Schiff und die andere Hälfte hat Unterricht – dann wird getauscht“, sagt der Professor.

Im September 2012 hat Eberle die wissenschaftliche Leitung des KUS-Projekts übernommen, das es seit 2007 an der Uni Erlangen-Nürnberg gibt. Die Schwerpunkte seiner Forschung liegen auf der Erlebnispädagogik, Persönlichkeitsentwicklung und der Gestaltung von Lernumgebungen. „Ich habe vorab mit ehemaligen Teilnehmern und ihren Eltern gesprochen, um das Vorhaben zu planen.“

Das Schiff in Schülerhänden

Auf Weltreise im Dienste der Wissenschaft

Die Herausforderungen sind es, die ihn besonders interessieren. „Wir fragen die Jugendlichen zum Beispiel vor, während und nach der Besteigung des Teide nach ihren Gefühlen.“ Auch die „Schiffsübernahme“ wird untersucht. Dreimal während der sechsmonatigen Reise übernehmen die Schüler das gesamte Schiff und steuern es vollkommen selbstständig. Eine oder einer ist Kapitän, ein anderer der Steuermann, die richtige Mannschaft würde nur im Notfall eingreifen. Die Forscher wollen wissen: „Wie fühlst du dich, wenn du an die bevorstehende/gerade stattfindende/ zurückliegende Aufgabe denkst?“ Die 15- und 16-Jährigen sollen dann Gefühle wie Stolz, Scham, Hoffnung, Traurigkeit, Freude, Angst, Ärger oder Langeweile auf einer Skala von eins für gar nicht oder sechs für sehr bewerten. „Wir wollen wissen, welche Emotionen Lern- und Leistungssituationen hervorrufen, was motivationsfördernd ist und was nicht und was den Schülern hilft, auch in schwierigen Situationen nicht aufzugeben“, sagt Eberle.

Am meisten Angst vor dem Mathe-Test

Die Jugendlichen bewerten ihre Gefühle unter anderem beim Klettern in den höchsten Mast, beim Organisieren der Exkursionen und während der Fahrradtour auf Kuba. „Aber die meiste Angst hatten sie vor dem Mathetest – obwohl es genau das war, was sie schon kannten!“, sagt Eberle. „Das hat uns verblüfft.“

Manchmal nervt das Ausfüllen der Fragebögen während der Reise. „Aber viele erzählen uns hinterher, dass unsere Fragen ihnen auch geholfen hätten, zu reflektieren, was sie gerade erlebt haben. Sie können ihre Erfahrungen dadurch besser verarbeiten und viel über sich selbst lernen auch für den Alltag zu Hause.“

Bei der Auswertung können die Wissenschaftler vergleichen, ob die Teilnehmer bei der zweiten Bergbesteigung oder dritten Schiffsübernahme schon souveräner mit Herausforderungen umgehen als bei der ersten und sich vielleicht sogar darauf freuen.

Nicht nur wie die Schüler sich selbst fühlen, interessiert die Pädagogen, sondern auch die soziale Situation an Bord und zurück zu Hause. Schließlich ist es eine besondere Herausforderung, ein halbes Jahr mit 50 Menschen auf einem Schiff zusammenzuleben, die man vorher nicht kannte. „Natürlich gibt es manchmal Konflikte“, sagt Eberle. „Aber für mich ist es jedes Mal wieder erstaunlich wie gut das läuft auf dem engen Raum mit wenig Privatsphäre.“ Einmal hat sich ein Schüler heimlich am streng eingeteilten Essen bedient – aber solche Situationen regelt dann ein Schülerparlament an Bord.

Die Befragungen der vergangenen Jahrgänge haben Eberle gezeigt, dass den Jugendlichen vor allem das gute Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern an Bord gefällt. „Sie fühlen sich anders wahrgenommen und wertgeschätzt, sie sind ein gleichwertiger Teil der Crew“, sagt er. „Die meiste Freude hatten sie vor, während und nach den Aufgaben mit der meisten Verantwortung.“

Eberle hat selbst fünf Jahre als Hauptschullehrer gearbeitet und wünscht sich mehr Kreativität im Schulalltag: „Natürlich hat niemand ein Segelschiff im Schulhof stehen, aber man kann Sinus, Cosinus und Tangens auch mit Hilfe eines Fahnenmasts erklären.“

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