Frau, Mann — oder beides?
7.2.2016, 17:40 UhrAndreas Rose sagt es knallhart: „Früher haben sich solche Menschen umgebracht.“ Heute, 40, 50 Jahre später, sitzen sie in seiner Praxis in Fürth. Es sind Menschen, für die etwas so elementar nicht stimmt, dass es nicht auszuhalten ist: Sie sind als Mann geboren, fühlen sich aber als Frau – oder umgekehrt. Ihr Körper ist ihr größter Feind. „Manche weinen die ganze Zeit, wenn sie hier sind“, erzählt der Psychotherapeut, Mitglied des Leitungsgremiums und Leiter der Ambulanzen des Instituts für Verhaltenstherapie, Verhaltensmedizin und Sexuologie (IVS) in Nürnberg.
Lange waren es vor allem transidente Erwachsene, die endlich die Lüge ihres Lebens hinter sich lassen wollten und Hilfe suchten. Mittlerweile kommen zunehmend Kinder und Jugendliche, die ein solches Lügengebäude gar nicht erst aufbauen wollen. „Mein jüngster Patient“, sagt Rose, „war zwölf Jahre alt.“
Bei Bernd Meyenburg sind schon Vierjährige von ihren Eltern vorgestellt worden. Der Kinderpsychiater hat 1989 an der Frankfurter Uniklinik eine Spezialsprechstunde für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsidentitätsstörungen eingerichtet und seitdem Hunderte Patienten betreut. „Seit 2000 haben die Zahlen deutlich zugenommen“, bestätigt er. Vor allem das Internet trägt zur Information und Vernetzung bei. „Der Mut ist gestiegen, die Akzeptanz auch“, fasst Meyenburg zusammen. Allen voran die Eltern akzeptierten die Besonderheit ihres Kindes oft erstaunlich gut.
Warum bei manchen Menschen Leib und Seele nicht zusammenfinden, ist noch unklar. Vermutlich ist der Auslöser ein Mix aus physischen, psychischen und sozialen Ursachen.
Auch genaue Zahlen fehlen. Schätzungen gehen aber von 3000 bis 6000 betroffenen Kindern und Jugendlichen in Deutschland aus. „80 Prozent kommen ab dem Alter von 13, 14 Jahren zu uns“, sagt Meyenburg. Bis dahin sind mitunter schon leidvolle Jahre vergangen. „Es kommt vor, dass schon ein kleiner Junge einfach nicht reagiert, wenn er mit seinem Jungennamen angesprochen wird, sondern nur mit einem Mädchennamen angesprochen werden möchte.“
Während burschikose Mädchen lange unbehelligt bleiben, fallen Jungen, die Röcke tragen oder auf die Mädchentoilette gehen, schnell auf. „Da gibt es dann oft Dissens bei den Eltern, wie damit umzugehen ist“, erlebt Meyenburg. Weil es eine schnelle Lösung nicht gibt, raten die Experten zunächst zu Gelassenheit — und zu Kompromissen zwischen Eltern und Kindern. Jungen, die als Mädchen leben möchten, dürfen das dann vielleicht zu Hause tun, treten dafür aber in der Schule in neutraler Kleidung auf. Vom Versuch, das Kind umzuerziehen, rät Meyenburg eindringlich ab. „Das läuft schief.“
Pubertät schafft Klarheit
Suchen Eltern und Kinder Hilfe, laufen Diagnostik und Therapie parallel – oft über Jahre. Das Ergebnis wird offen gehalten. „Die Frage ist immer: Bleibt der Wunsch nach einem Geschlechtswechsel bestehen?“, sagt Andreas Rose, der einer der wenigen Therapeuten im Raum Nürnberg ist, die Erfahrung mit dem Thema haben.
Relativ sicher lässt sich die Frage während der Pubertät beurteilen — dann trennen sich die sogenannten Desisters, bei denen sich die Abneigung gegen das eigene Geschlecht wieder auflöst, von den Persisters: Bei ihnen ändert sich am Gefühl, im falschen Körper zu stecken, nichts. „Bei erstmals im Kindesalter Vorgestellten bleibt der Wunsch nach Geschlechtsangleichung in 20 bis 30 Prozent der Fälle bestehen, bei Jugendlichen ist der Anteil wesentlich höher“, sagt Meyenburg.
Ärzte und Therapeuten manövriert die Tatsache, dass das erste hormonelle Aufwallen abgewartet werden muss, in ein Dilemma. „Der Leidensdruck kann in dieser Zeit enorm werden“, betont Rose. Brust- und Bartwachstum oder die Regelblutung seien für transidente Jugendliche „die Hölle“. Doch eine prophylaktische Behandlung mit gegengeschlechtlichen Hormonen, die den Körper schon vor der Pubertät in die andere Richtung dirigieren, ist derzeit nicht zu verantworten: Östrogene und Testosterone triggern irreversible körperliche Veränderungen wie den Bartwuchs; zu einem Zeitpunkt, zu dem keine ausreichende Sicherheit besteht, ob der Körper nicht doch der richtige ist, wäre das fahrlässig. „Eindeutige Kriterien für Persisters und Desisters fehlen leider“, klagt Meyenburg.
Den Beginn der Pubertät müssen betroffene Kinder deshalb abwarten. Ändert sich nichts, spricht einiges für einen „Persister“. „Bei ihnen hat sich der Wunsch nach einem Geschlechtswechsel oft schon seit der Kindheit durchgezogen“, sagt Meyenburg.
Es folgt ein harter Alltagstest: Ein Jahr lang müssen die Jugendlichen in allen sozialen Bereichen in der gewünschten Identität leben, in Frauen- oder Männerkleidern, mit neuem Namen. Erst wenn diese Hürde bestanden ist, sind Hormone und chirurgische Eingriffe ein Thema — dann aber auch schon vor dem 18. Geburtstag.
Ist die Angleichung endlich geschehen, gehe es den meisten Transidenten besser, sagt Meyenburg. Er hat 3000 Gutachten aus ganz Deutschland ausgewertet. Das Ergebnis: Nicht mal ein Prozent der Betroffenen wollte später wieder zurück in den alten Körper.
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