Professorenwissen für alle
8.8.2016, 21:30 UhrErst vor drei Jahren hat Patrick Franke seinen ersten Artikel bei Wikipedia geschrieben. Über „Al-Chidr“, den „Grünen“, eine stark verehrte und vieldiskutierte Gestalt im Islam, die von Gott auserwählte Menschen angeblich bis heute treffen können. „Das war das Thema meiner Doktorarbeit und ich habe mich geärgert, dass meine Forschung so wenig wahrgenommen wird“, erzählt der Islam-Wissenschaftler aus Bamberg über seinen Erstkontakt mit dem Internet-Lexikon.
Drei Jahre später hat er den Islam-Bereich der deutschsprachigen Wikipedia mit seinen mehr als 3500 Beiträgen „fast komplett übernommen“, gibt er zu. Fast im Wochenrhythmus produziert er neue Artikel und stellt sie ein, an vielen anderen hat er mitgearbeitet und sie verbessert. Im Schnitt erreicht er so pro Tag 6000 bis 8000 Leser.
700 000 Mal im Monat abgerufen
Der Artikel über die Glaubensgemeinschaft der Jesiden, den er 2014 überarbeitet hatte, wurde wenig später mehr als 700 000 Mal im Monat abgerufen. „Das ist doch klasse“, findet Franke. Die Menschen, die er informiert — so sieht er es — finanzieren mit ihren Steuergeldern schließlich auch seinen Job. Für ihn ist es eine Art Professorenpflicht, sein Wissen — gerade zu einem so aktuellen Thema — zur Verfügung zu stellen.
Die Kosten dafür sind Abend- und Wochenendschichten. Denn für seine Reputation als Wissenschaftler ist Wikipedia bisher wertlos. Wer dort schreibt, schreibt an einem Projekt der Allgemeinheit, die Autorschaft wird nicht gekennzeichnet. Eigene Publikationen aber sind die Währung des weltweiten Wissenschaftsbetriebs, die über Fördergelder und Wohl und Wehe von Karrieren entscheidet. Patrick Franke geht das gegen den Strich. „Es wäre absurd, wenn sich ausgerechnet Wissenschaftler nicht an diesem kommunitären Projekt beteiligten“, findet er. Und hat deshalb für sein Fachgebiet ein System ersonnen, das Nachahmer finden und das Mitschreiben am Weltwissen für Experten attraktiver machen könnte.
Was sind Ibaditen?
Weil der Knackpunkt die Autorschaft ist, versammelt seine „Bamberger Islam-Enzyklopädie“ (BIE), vor wenigen Tagen ans Netz gegangen, deutsche Wikipedia-Artikel von Islam-Wissenschaftlern, die jeder für sich die Qualitätskriterien einer Fachenzyklopädie erfüllen und den Autor mit Klarnamen nennen. Jeder Beitrag kann so in einer Publikationsliste aufgeführt werden.
Die Nennung erfolgt nicht in Wikipedia, sondern auf der BIE-Seite der Bamberger Uni, die als eine Art Eintrittspforte in die geprüften Islam-Artikel fungiert. „Damit sind wir an diese riesige globale Wissensverbreitungsinitiative angeschlossen und haben alle Möglichkeiten, die die Wikipedia bietet“, schwärmt Franke. Zum Beispiel: Links auf Audio-Dateien, Fachdatenbanken, Videos und digitalisierte Handschriften.
Der Nachteil: Große Begriffe wie „Mekka“ oder „Islam“, an denen viele Autoren beteiligt waren, tauchen auf der BIE-Seite nicht auf. „Die habe ich zum Teil zwar auch überarbeitet, aber mein Textanteil liegt eben nur bei 30 bis 40 Prozent“, sagt Franke. Für die BIE aber braucht es eine klare Autorschaft. Die ist im Moment noch eher bei Randthemen wie dem Beitrag über die Ibaditen oder verschiedene islamische Gelehrte vergangener Jahrhunderte gegeben. Geographische oder geschichtliche Einschränkungen aber gibt es nicht. Die BIE behandelt den Islam als globale Religion und in Vergangenheit und Gegenwart.
Auch wenn er manche „heißen Eisen“ noch nicht angefasst hat: Dass die Deutungshoheit über den muslimischen Glauben Kampfgebiet ist, schreckt Franke nicht. „Ich stelle immer den Diskurs zu einem Themenfeld so neutral wie möglich dar.“
Er hofft, dass ihn bald mehr Wissenschaftler unterstützen und ihre Beiträge über die BIE in die Wikipedia einspeisen. Die Angst, dass dann Hinz und Kunz ständig im Text herumfuhrwerken, kann er entkräften. „Ich habe wenig schlechte Erfahrungen gemacht“, sagt er. Würden sich mehr Wissenschaftler mit ihren Disziplinen am freien Wissen beteiligen, könnte die Wikipedia mit ihrer Fortschreibbarkeit ein ganz neues Wissenschaftsverständnis befördern, glaubt Franke.
Gerade erst hat er einen Beitrag über die Muhtasibs, Sittenwächter in muslimischen Ländern, eingestellt. Der Beitrag ist ausgedruckt 45 Seiten lang und hat Franke fünf Monate Arbeit und die Auswertung von über 100 Quellen und Studien aus verschiedensten Sprachen gekostet. „So etwas“, sagt Franke, „finden Sie nicht mal in der Forschungsliteratur.“