5. Mai 1970: Hundert Tage Schonfrist

5.5.2020, 07:29 Uhr
5. Mai 1970: Hundert Tage Schonfrist

© E. S.

Und Nürnberg will da nicht nachstehen: Oberbürgermeister Dr. Urschlechter bat für seine beiden neuen Referenten, Otto Peter Görl, den Baufachmann, und Dr. Hans Georg Schmitz, den Finanzexperten, um Nachsehen. Die beiden machen aber nur kleine Politik, die der Stadt Nürnberg.

Wenn in Bonn von Ministerwechsel die Rede ist, dann redet man im kommunalen Bereich nur von einer „Ablösung der Wahlbeamten“. In Bonn spricht man vom Finanzministerium, in Nürnberg vom „Referat 11“. In der Bundeshauptstadt wären mindestens zwei Ministerien zuständig für das, was der neue Chef des dem Bürger nichtssagenden „Referats VI“ tut.

So gesehen, hat es gestern in Nürnberg zwei Ministerwechsel gegeben. Der Oberbürgermeister übergab im Dauerlauf die Geschäfte an Görl (8 Uhr) und Schmitz (9 Uhr). Und beide Male wies er darauf hin: daß das Stadium des Wiederaufbaus beendet sei, daß der „Ministerwechsel“ nicht nur äußeres, sondern auch konzeptionelles Zeichen des Wandels sei, daß sich Nürnberg aus der Phase des Wiederaufbaus zur Epoche der Gestaltung mausere.

So setzte das Stadtoberhaupt seine Akzente: man müsse diesem Nürnberg neue Impulse geben, ganz gewaltige Impulse sogar, um die Stadt nicht ins Hintertreffen geraten zu lassen. Er prägte den Satz, daß eine Stadt mit ihrer progressiven oder regressiven Entwicklung lebt oder stirbt, daß sie an Attraktivität gewinnt oder verliert, ganz nach dem Maßstab, in dem sie sich wirtschaftlich entwickelt.

Dieser wirtschaftliche Aspekt liegt dem Oberbürgermeister am nächsten. Er ermahnte seine neuen Referenten, die gestern ins Amt eingeführt wurden: „Richten Sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf dieses Problem!“ Er meinte damit sowohl den Stadtkämmerer als auch den – von der Sache her – ganz heterogenen Baureferenten.

Der Baureferent – Görl – wird seinen Auftrag sehr eigenwillig nehmen. Er ist ein Befürworter der exzeptionellen Baugestaltung, er faßt seinen Auftrag gesellschaftspolitisch auf. Die Frage der Fassadengestaltung an diesem oder jenem Haus ist für ihn zweitrangig. Görl glaubt, sozialistische Politik bauen zu können. Und das ist etwas ganz anderes als das, was sein Vorgänger Schmeißner getan hat, der sich in erster Linie um den Wiederaufbau kümmerte. Urschlechter dazu: „Das ist abgeschlossen, höchstens noch in Feinmechanik zu komplettieren.“

Mit dieser verschiedenartigen Zielsetzung ist eigentlich der Grundstein für künftige Zwistigkeiten schon gelegt. Das Baureferat der Stadt wird nicht mehr bequem sein, wird nicht mehr allen Wünschen dessen gerecht werden, was man die „öffentliche Meinung“ nennt. Görl ist ein Streiter, ein Unbequemer. Das ist der SPD, die ihn wählte, durchaus bekannt. Ob er seine Konzeption durchhalten kann – das wird sich nach einigen Jahren erweisen.

Görl beschwor die öffentliche Kritik bei seinem Amtsantritt selbst herauf. Er bat darum. Seine Konzeption hat er bisher ebenso wenig durchblicken lassen wie sein Kollege Dr. Hans Georg Schmitz, der im Wolffschen Rathaus hinter kunstvoll getäfelten Wänden thront, der aber im Gegensatz zu seinem Vorgänger Dr. Dr. Georg Zitzmann die Finanzen der Stadt Nürnberg durchsichtig machen will: das heißt, dem Bürger verständlich zeigen, wohin die Steuergelder laufen. Er will nicht als „Hoher Priester“ darüber wachen, daß die Mysterien kommunaler Finanzen in den Einzeletats verborgen bleiben, sondern dafür sorgen, daß die Nürnberger wissen, was mit ihrem Geld geschieht.

Otto Peter Görl trat sein Amt an und bat die Gäste hinterher zum kleinen Imbiß. Der neue Stadtkämmerer Schmitz beargwöhnt von seinen Gästen, ob er ähnliche Gastfreundschaft walten lasse, beschämte Mainzer (seiner Heimatstadt) „Weck, Woi und Worscht“. Beiden Referenten ist Glück zu wünschen. Aber man bedenke die Schonfrist: 100 Tage.