7. Mai 1970: Gefesselt durch die Altstadt

7.5.2020, 08:36 Uhr
7. Mai 1970: Gefesselt durch die Altstadt

© Wolfgang Doll

Fast wäre er schon in der Karolinenstraße beendet gewesen. Denn da trat von hinten ein Mann in Zivil an die Seite des Gefesselten, wies sich dezent als Polizist aus (er hatte seinen freien Tag) und forderte ihn auf, mit ihm zum Polizeipräsidium zu kommen. Der Presseausweis und der Polizeibericht vom Tage, der in der Innentasche der Jacke steckte, überzeugten ihn schließlich. Am Duda-Eck gelüstete es den Achterträger nach einer Zigarette, die er sich mit gefesselten Händen in den Mund steckte. Einen jungen Mann bat er um Feuer. Der Angesprochene nestelte Streichhölzer aus der Tasche, aber es wollte nicht so recht klappen. „Es ist windig“, entschuldigte er sich und fuhr dabei immer noch mit der falschen Seite des Zündholzes über die Reibfläche. Schließlich bemerkte er seinen Irrtum, und schon brannte die Zigarette.

Kein Laden mit Feilen

Bleich und bemerkenswert hilfsbereit wurde ein älterer Mann, der nach einer Schlosserei oder einem Eisenwarenladen befragt wurde, in dem es auch Feilen gebe. Leider, leider kenne er sich nicht aus, und er verschwand. Ein Bauarbeiter wußte es auch nicht, aber da fiel ihm etwas anderes ein, und das ärgerte ihn sichtlich: noch am Vormittag hatte er eine scharfe Zange gehabt, und mit deren Hilfe wäre es ganz leicht gegangen: „Gleich hätt‘ mers g‘habt.“ „Was hast‘ denn da ang‘stellt“, fragte gutmütig ein Bananenverkäufer, kassierte das Geld und gab die Früchte heraus. Aber die mußten geschält werden. Ob es nicht helfen könne, wurde ein altes Mütterlein befragt, die Handschellen störten so sehr. „Brechen‘s bloß den Kopf ab und ziehen‘s dann die Schalen runter“, erläuterte die liebe Dame und schälte die Banane. Eine Nonne bedauerte aufrichtig, daß sie sich „in der Stadt“ nicht auskenne und auch nicht wisse, wo ein Eisenwarengeschäft ist oder ein Schlüsselladen. Denn sie sah ein, daß das Tragen von Handschellen unangenehm ist. Ein junger Mann konnte auch keine Auskunft erteilen. Beim nächsten Zigarettenanzünden war einer von drei Amerikanern an der Reihe. „Jesus Christ“, sagte er anerkennend, als er die Handschellen sah, schüttelte den Kopf, zündete die Zigarette an und fuhr fort: „Hell to me.“ Dann ging er.

Vor einer italienischen Eisdiele am Hauptmarkt wurde die Bedienung lediglich ein bißchen steifer, als sie aus gefesselten Händen das Geld für ein Bier kassierte, sonst ließ sie sich nichts anmerken. Auffällig war nur, daß danach ein Kellner die Gäste an den Tischen im Freien bediente und daß die Bedienung nur ab und zu einen verstohlenen Blick auf die gefesselte Gestalt warf, von der Türe her; hinaus nämlich ging sie nicht mehr. Alsdann stieg der Mann in Handschellen in die „Einser“ ein; vor ihm waren fünf Personen. Und die Schaffnerin erbleichte, als ihr Blick auf die leise klirrenden Fesseln fiel. Sie fertigte die anderen Fahrgäste ab und war sichtlich erleichtert, als sie das Ziel des Gefesselten erfuhr: „Gefängnis, bitte.“ Und als sie gefragt wurde, gab sie sofort Auskunft, wo ihr seltsamer Gast aussteigen mußte. Sie tat noch mehr: Eineinhalb Stationen zuvor kam sie zu ihm zum Ausgang und gab ihm leise Auskunft. Ein wissender Blick heimlichen Einverständnisses flog zwischen Schaffnerpult und Ausstieg hin und her.

Präsident ist nicht da

Der Weg führte zum Gefängnispförtner. Der Gefesselte lehnte seinen Ellbogen auf das Fensterbord und bat: „Ich möchte den Oberlandesgerichtspräsidenten sprechen.“ Der Blick des Beamten wurde scharf, als er die Fesseln entdeckte: „Wo haben Sie die her, woher kommen Sie?“ „Ich komme aus Nürnberg. Und ich möchte den Oberlandesgerichtspräsidenten sprechen.“ „Sind Sie ausgebrochen, wie kommen Sie ...“ „Ich möchte den Oberlandesgerichtspräsidenten sprechen.“ Da verschwand der Polizist blitzartig und kam sogleich aus einer Nebentür ins Freie. Aber auch Regierungsdirektor Groß, Leiter der Strafvollzugsanstalten Nürnberg-Fürth, kam zufällig daher. Und er erkannte: „Mit Ihnen habe ich doch erst kürzlich ein Interview gemacht ...“ So wurde denn die Angelegenheit aufgeklärt, und Groß versicherte, daß der Mann in Handschellen wieder gehen dürfe.

Zurück zur Straßenbahn. Der Schaffner zuckte mit keiner Miene, als er das Ziel „Polizeipräsidium“ erfuhr. Der Achter-Mann zahlte mit einem Fünf-Mark-Schein und bat, daß ihm das Wechselgeld gleich ins geöffnete Portemonnaie geworfen werde. Der Schaffner wollte es tun, doch dann zuckte sein Arm zurück. Die Hand öffnete sich noch einmal, und deutlich schob er das Geld auseinander: es waren wirklich 4,30 DM. Dann erst fielen die Münzen in den Geldbeutel, Mittlerweile war es still geworden im Straßenbahnwagen, und auch eine Gruppe von Mädchen tuschelte nur mehr. Am Plärrer stiegen die jungen Damen aus und umrundeten den Straßenbahnzug noch einmal, damit sie auch ja die Handschellen sehen konnten.

Der Weiße Turm nahte. Aussteigen. Der Schaffner bewies Gefühl für Takt: „Ich laß‘ Sie schon bei mir hinten hinaus.“ Aber trotzdem ruckten neugierige Fahrgastköpfe hoch, als der Gefesselte die Straßenbahn verließ, schlug er auch wirklich die Richtung zum Polizeipräsidium ein? Er tat es. Mit Schwung stieß er die schwere Eingangstür auf, da kam ihm ein uniformierter Polizist entgegen.“Grüß Gott“, sagte der Beamte liebenswürdig und ging vorbei. Der Gefesselte betrat den Raum, in dem er die Handschellen in Empfang genommen hatte. Kaum waren sie ihm abgenommen, da kam der Polizist von vorhin hereingestürzt, deutete auf den gerade Befreiten und sagte aufgeregt: „Der hat doch soeben noch ...“. Aber das war rasch aufgeklärt, und so hatten sie ihn beide wieder: die Polizei und die Freiheit. 

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