12. Mai 1970: Vierter Deutscher Jugendhilfetag in Nürnberg

12.5.2020, 07:27 Uhr
Die Arbeitsgruppe Vorschulerziehung trat im Foyer der Meistersingerhalle zusammen. Katholische Schwestern sahen sich um die Anerkennung ihrer Arbeit gebracht.

© Ulrich Die Arbeitsgruppe Vorschulerziehung trat im Foyer der Meistersingerhalle zusammen. Katholische Schwestern sahen sich um die Anerkennung ihrer Arbeit gebracht.

Mit der Harmonie wurde es nichts. Die wichtigste Resolution des Tages fordert kein Konfessionsbetrieb mehr in den Kindergärten und Kindergärtnerinnen sollen in den Streik treten, um damit auf Missstände in der Vorschulerziehung hinzuweisen.

Eine katholische Ordensschwester steht im Foyer der Meistersingerhalle und klagt: "Diese jungen Leute kritisieren nur. Zuviel Theorie und zu wenig Praxis. Und was kommt dabei heraus? Im Grunde nichts." Eine andere Erzieherin aus Sinzing in der Oberpfalz resigniert: "Wir gehen zur Arbeit und kommen dann völlig unvorbereitet zu diesem Jugendhilfetag. Wir sind einfach zu blöd, den Jungen Kontra zu bieten."

Das ist das beherrschende Thema dieser Nürnberger Tagung: Die Auseinandersetzung zwischen den alten Praktikern und den jungen pädagogischen Besserwissern, die in jedem Erziehungsvorgang einen Akt gesellschaftspolitischer Umstrukturierung sehen wollen. Wortführer der sozialkritischen Theoretiker ist Dr. Reinhart Wolff, weiland SDS-Vorsitzender und Sausebraus der APO. Er geht gleich in die Vollen: die öffentliche Hand müsse den konfessionellen Trägern wie Caritas und Innere Mission die Lizenz entziehen, Kindergärten zu betreiben. Gegenfrage: Ob dann wenigstens auf Antrag der Eltern ein Kindergarten mit christlicher Erziehung errichtet und gefördert werden dürfe? Dr. Wolff verneint. "Christliche Nächstenliebe überall, bitte sehr. Aber nicht bei unseren Kindern."

Fünf Stunden dauert die Auseinandersetzung, aber dann erleiden die Schwester und die Vertreter der kirchlichen Verbände eine Abstimmungsniederlage. Auf ihre Mitarbeit in Kindergärten wolle man künftig verzichten. Dann ging es aber doch um das liebe Geld. In der Resolution wird für jeden Sozialpädagogen ein Mindestgehalt von monatlich 1500 Mark verlangt. Alle Vorschuleinrichtungen seien systematisch auszubauen, Kindergruppen dürften nicht mehr als zehn Kinder umfassen.

Dominierende Kontrahenten Dr. Reinhart Wolffs waren der Direktor eines heilpädagogischen Seminars in Freiburg, Dr. Alexander Sagi, und Caritasverbandsgeschäftsführer Hartmut Scupin aus Braunschweig. Doch sie drangen mit ihren Argumenten bei der Mehrheit der Arbeitsgruppe nicht durch. Dr. Sagi: "Wenn wir zuerst eine völlig neue Gesellschaftsstruktur schaffen müssen, wie von Dr. Wolff gefordert, wann wollen wir denn mit der Vorschulerziehung beginnen? In fünfzig Jahren vielleicht?" Hartmut Scupin gab zu bedenken, dass gegenwärtig 75 Prozent der vorschulpädagogischen Ausbildung von der Caritas und dem diakonischen Werk getragen werden.

Eine Demonstration am Rande: im Bläserraum der Meistersingerhalle wurde ein antiautoritärer Kinderladen eingerichtet. Während sich die Eltern die Köpfe heiß redeten, tummelten sich hier bis zu 15 Kinder. Einer der Teilnehmer hatte nach dem Eröffnungsreferat den Kinderladen beantragt. Die Tagungsleitung stimmte zu und finanzierte den Kleinen sogar ein Mittagessen, das ein Kellner im weißen Frack servierte.

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