Der letzte Wille braucht Zeit

22.5.2020, 10:53 Uhr
Der letzte Wille braucht Zeit

© Foto: Hagen Lehmann-Coburg/Huk-Coburg

Welche Behandlung will ich, welche nicht? "Ob Corona oder nicht – jeder sollte eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht haben", sagt Dirk Münch, Diakon und Vorsitzender des Hospiz-Teams Nürnberg. Doch ob Patientenverfügung, Impfpass oder Medikationsplan — wo bewahren die Angehörigen diese Dokumente nur auf?

Im Zug der Pandemie wird ein Missstand sichtbar, der bisher nicht zufriedenstellend gelöst ist, so Dirk Münch: Wer an Notfallrettung denkt, hat Rettungswagen vor Augen, die schnell auf den Straßen unterwegs sind, Sanitäter und Ärzte, die durch Treppenhäuser hasten – im Notfall muss es schnell gehen, der Handlungsdruck ist groß, etablierte Standards laufen wie automatisch ab, und die Patienten sind gar nicht in der Lage, alle wichtigen Informationen zu geben.

Die Vorstellung ist entsetzlich: Der Wille der betroffenen Person wird gar nicht bekannt – etwa, weil nie eine Patientenverfügung erstellt wurde oder die Angehörigen hilflos bleiben, weil sie nicht wissen, wo die Dokumentenmappe samt Patientenverfügung versteckt ist. Dazu kommt: Nicht selten hilft die Patientenverfügung im Notfall nichts, weil die Formulierungen in dem Dokument zu schwammig sind – Sätze wie "Ich will kein würdeloses Dahinsiechen" oder "keine Schläuche und Geräte" sind zu wenig. Es funktioniert nicht, ein Formular im Internet zu suchen und schnell auszufüllen – denn das Thema braucht mehr Zeit als online eine Zeitschrift zu ordern. Wer über ein gutes Leben vor dem Sterben reden will, kann die Beratungsstunden beim Hospiz-Verein auch als Denkprozess begreifen, jedoch nicht als einmaligen.

Wer jung ist, will vielleicht, dass nach einem Unfall alles versucht wird, was der Medizin möglich ist. Als alter oder kranker Mensch wünscht man sich möglicherweise in einem bestimmten Krankheitsstadium keine Hilfe mehr. Und am Beispiel der Covid-19-Erkrankung sollte man sich fragen, ob, wie und wie lange man beatmet werden will. Eine invasive Beatmung kann sehr leidvoll sein und dauert bei Covid-19 in der Regel zwei bis drei Wochen.

"Richtig und falsch gibt es nicht"

In den USA ist es üblich, eine Patientenverfügung für den Notfall, verpackt in Folie, im Kühlschrank aufzubewahren – mit einem Blick sehen Rettungskräfte, ob ein Patient eine uneingeschränkte Notfall- und Intensivtherapie wünscht. Doch es geht auch darum, vom Patienten nicht gewollte Entscheidungen im Sinn einer Über-, aber auch Untertherapie zu vermeiden. Deshalb sind ausführliche Beratungsgespräche und deren unmissverständliche Dokumentation notwendig, um im Notfall danach handeln zu können. Eine Idee, die in 16 Pflegeheimen in Nürnberg gemeinsam mit dem Seniorenamt umgesetzt wurde: In den Heimen sind die Patientenverfügungen bei den Unterlagen der Bewohner oder sie hängen in den einzelnen Zimmern in den Türen der Kleiderschränke. Da die Papiere mit der Unterschrift des Hausarztes versehen sind, wurden aus den Dokumenten ärztliche Anordnungen für den Notfall, die Zusammenarbeit von Hausarzt, Heim, Notarzt und Krankenhaus ist garantiert.

Die Vorteile: Ein Patient, der keine Herz-Lungen-Wiederbelebung und keine Beatmung auf der Intensivstation will, sondern wenn möglich im heimischen Umfeld bleiben möchte, würde von den Rettungskräften gar nicht erst ins Krankenhaus gebracht – und wieder zurück nach Hause, wenn sein Patientenwille vor Ort bekannt würde. Er bleibt im häuslichen Umfeld, dies schont ihn selbst und die Ressourcen der Rettungskräfte.

In der Beratung geht es um konkrete Fragen, etwa, ob man am Lebensende lieber Musik am Krankenbett hören will oder einen Radiosender mit Wortprogramm. Es gilt, herauszufinden, welche Lebens- und Behandlungssituationen dem späteren Patientenwillen entsprechen. "Richtig oder falsch", so Dirk Münch, "gibt es nicht."

Der Prozess einer vorgezogenen Entscheidungsfindung wird international seit den 90er Jahren unter der Bezeichnung "Advance Care Planning" (ACP), zu deutsch "Behandlung im Voraus Planen" entwickelt, erforscht und beworben. Das Konzept zielt darauf ab, nicht-ärztliche ACP-Gesprächsbegleiter zu qualifizieren, damit sie in Kooperation mit Ärzten ACP-Gespräche begleiten können.

Das Sozialgesetzbuch (§ 132g SBG V) hält fest, dass die Krankenkassen die Kosten tragen, und zwar in den Einrichtungen der stationären Seniorenpflege und der Eingliederungshilfe. "Das Hospiz-Team Nürnberg, genauer die Hospiz und Palliativakademie, bildet Gesprächsbegleiter aus, doch die Entwicklung steht derzeit noch am Anfang", betont Dirk Münch. Gerade die Covid-19-Krise zeige den Bedarf. Um auch Patienten, die ambulant behandelt werden, eine qualifizierte Beratung anbieten zu können, hofft man auf das Engagement der ambulant tätigen Ärzte.

|www.hospiz-team.de

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