Nimmt häusliche Gewalt in Lockdown-Zeiten zu?
Dem Martyrium entkommen
20.6.2021, 17:12 UhrFrau Vieth, ging Ihnen ein Fall in 27 Jahren Opferhilfe besonders nah?
Da gab es einige Fälle. Die bleiben einem immer in Erinnerung. Jeder neue Fall erinnert auch an die Opfer, die bei uns bereits Hilfe erhielten. Es sind oft ähnliche Schicksale. Immer wieder erhalte ich auch Anrufe, Karten und Briefe von Menschen, denen ich einmal geholfen habe. In einem Fall hat ein Mann eine Ausländerin überredet nach Deutschland zu kommen. Sie heirateten. Und dann hielt er sie - man kann es nicht anders sagen - wie eine Sklavin. Über eine Freundin hat sie es geschafft, Hilfe zu holen. Ein anderer Fall blieb mir bis zuletzt in Erinnerung. Es gab eine junge Frau, die ich begleitet habe, die mindestens etwa fünf Jahre lang häusliche Gewalt erlebt hatte. Sie hat seitdem jedes Jahr eine Postkarte geschickt, an Weihnachten, an Ostern und so weiter, um mir zu schreiben, dass es ihr gut geht und wie froh sie ist, nun endlich in Ruhe ihr Leben zu leben. Es hat mich unglaublich gefreut zu wissen, dass sie es geschafft hat und nun ihr Leben genießen kann.
Viele Opfer schaffen es erst nach Jahren, sich Hilfe zu holen. Wie kommt das?
Sie halten unglaublich viel aus und das über Monate, manchmal auch Jahre hinweg. Oft ist es nach vielen Demütigungen und erlebter Gewalt ein einzelner Tropfen, der dann das Fass zum Überlaufen bringt. Es gibt mehrere Faktoren. Zum einen lieben sie ihren Partner natürlich. Wenn es zur Gewalt kommt, sagen Täter, dass es ihnen leid tue und nie wieder vorkommen würde, was aber nicht stimmt. Der Täter suggeriert dem Opfer auch, selbst Schuld zu sein. Für den Täter gibt es immer einen Grund zu schlagen und Gewalt auszuüben. Viele Opfer schämen sich und es fällt ihnen schwer, über die Gewalt zu sprechen. Selbst wenn sich Opfer voller Sorge an Familienmitglieder wenden, ist das manchmal keine Hilfe. Es kommt vor, dass den Opfern nicht geglaubt oder die Gewalt kleingeredet wird. Da heißt es dann, das ist halt mal vorgekommen oder mir ist das auch schon passiert. Leider gibt es das. Deshalb müssen wir vom Weißen Ring beim Erstkontakt vor allem erst einmal das Vertrauen der Opfer gewinnen.
Wie funktioniert das in Lockdown-Zeiten?
Das ist eine Herausforderung. Wir machen Telefonberatungen und versuchen, so gut es geht zu helfen. Wir hoffen, dass nun bei den sinkenden Inzidenzen bald auch wieder normale Beratung in unseren Räumen möglich ist. Im persönlichen Gespräch kann Vertrauen besser aufgebaut werden.
Das Schwierige ist: Im Lockdown sind alle viel mehr zu Hause. Opfer haben kaum die Möglichkeit sich zu äußern und Hilfe zu holen, wenn der Täter ständig oder viel häufiger als sonst in der gleichen Wohnung oder im Haus ist. Die häusliche Gewalt ist da, nur die Opfer sind stumm. Aktuell haben wir wenige Anfragen, befürchten aber, dass es jederzeit mehr werden, da viele die Gewalt seit Monaten ertragen, sich aber noch keine Hilfe suchen konnten.
Haben Sie Anfragen von Frauen und Männern gleichermaßen?
Die allermeisten Hilfesuchenden sind Frauen. Es gibt aber auch Männer, die Opfer von häuslicher Gewalt werden. Inzwischen gibt es ja auch Männerhäuser in Deutschland, worüber ich sehr dankbar bin. Die Dunkelziffer ist einfach sehr hoch. Drei Männern habe ich bislang geholfen, die ein langes Martyrium hinter sich hatten.
Ein Riesenproblem ist: "Ein Indianer kennt keinen Schmerz" ist ein weit verbreiteter Spruch. Viele Jungs und Männer schämen sich, wenn ihnen Gewalt widerfährt. Sie denken, sie müssten das selbst regeln und holen sich deshalb keine Hilfe. Zum Glück gibt es da ein Umdenken. Ein paar Jahre wird es noch dauern, bis die Hilfsangebote für Männer noch stärker etabliert sind, denke ich.
Wie geht es nach der Telefonberatung weiter?
Damit die Opfer flüchten können, raten wir ihnen, vorher in Ruhe eine Tasche mit den wichtigsten Dingen zu packen, mit ihren Papieren und Dokumenten - und diese zum Beispiel bei einer Freundin unterzustellen. Damit sie dann fliehen können und auch alles bei sich haben, was sie brauchen.
Was passiert dann?
Wir stehen mit den Frauenhäusern in der Region in Kontakt, in Bamberg, Fürth, Erlangen und Coburg. Oft sind sie leider überfüllt, weshalb wir vorher schauen, wo ein Platz frei ist. Wir treffen uns dann in der jeweiligen Stadt und Mitarbeitende des Frauenhauses holen die Hilfesuchenden ab und kümmern sich um sie. Wir stehen weiterhin mit ihnen in Kontakt und klären, ob sie Hilfen brauchen, zum Beispiel eine finanzielle Soforthilfe bis zu 300 Euro, die das Opfer nicht zurückzahlen muss. Oft haben sie gar kein Geld, kein eigenes Konto und der Mann hat die Hand auf dem Konto und die Macht über das Kindergeld. Wir reichen Anträge entsprechend dem Opferentschädigungsgesetz ein. Wir vermitteln auch und empfehlen einen Anwalt. Das Opfer wählt ihn selbst. Für die Erstberatung beim Anwalt übernimmt der Weiße Ring die Kosten von 190 Euro. Da gibt es manchmal aber eine traurige Entwicklung.
Welche denn?
Fälle häuslicher Gewalt werden nicht immer von Amts wegen rechtlich verfolgt. Bei Sexualdelikten ist das anders, die sind ein Offizialdelikt, häusliche Gewalt aber nicht. Wenn zum Beispiel eine Frau Anzeige gegen ihren Mann erstattet, die Klage aber später zurückzieht, wird das nicht mehr verfolgt. Manche kehren zu ihrem Mann zurück und hoffen, dass die Gewalt nie wieder passiert. Sie wird danach aber oft sogar noch schlimmer.
Was wünschen Sie sich?
Dass die Opfer wissen, dass sie nicht alleine sind und es Hilfsangebote gibt. Viele wissen gar nicht, wo sie sich hinwenden können. Da hoffe ich, dass Medienberichte dazu beitragen, dass unsere Hilfsnummer bekannter wird und wir Menschen helfen können - damit sie es schaffen, zu flüchten und ihr Leben ohne Gewalt und eines Tages wieder glücklich leben können.
Zur Person: Monika Vieth unterstützt Opfer - Frauen und Männer.
Monika Vieth ist seit rund 27 Jahren ehrenamtlich für die Außenstelle Forchheim des Weißen Rings tätig, in der noch zwei weitere Ehrenamtliche arbeiten. Die Hilfsorganisation wurde 1976 vom TV-Journalisten Eduard Zimmermann gegründet. Sie ist in mehreren Ländern Europas für Kriminalitätsopfer und ihre Familien da. Die Hallerndorferin setzt sich besonders für Opfer von sexuellem Missbrauch ein. Sie hat entschieden dazu beigetragen, dass bislang über 800 Opfern von Gewalt und Kriminalität geholfen werden konnte. 2019 wurde sie mit dem Bayerischen Verdienstorden ausgezeichnet. Ministerpräsident Markus Söder überreichte ihn ihr in München.
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