Kalenderblatt
3. Dezember 1971: Prolog aus der Höhe
3.12.2021, 07:00 UhrZur deutschen Weihnacht gehören halt einmal der Schnee, die bittere Kälte, die strahlenden Kinderaugen, der Glühwein und der Kerzenschimmer im Tannengrün. Schon eine Stunde vor der offiziellen Eröffnung war der Nürnberger Hauptmarkt voll von Menschen, die alle das alljährliche Ereignis mitbekommen wollten. Man sah allerdings auch so viele Polizisten wie noch nie zuvor: irgendein Spinner hatte eine Demonstration mit der einen oder anderen Explosion angedroht. Es passierte nichts. Es war wie alle Jahre wieder.
Mit einer einzigen Ausnahme: das Christkind hieß dieses Mal zum ersten Mal Gudrun Bauer. Sie sprach ihren Prolog sehr lange, sehr auswendig und einstudiert von Hesso Huber. Die Kinder merkten von alledem nichts, vom nicht vorhandenen Schnee, von der Polizei und vom Prolog des Christkinds: sie waren begeistert. Es gefiel ihnen halt einfach, daß plötzlich das Licht ausging, daß so eigenartig gekleidete Gestalten auf der Empore der Kirche „Zu Unserer Lieben Frau“ erschienen, daß es Musik gab. Die alten Weihnachts-Hits „O, du fröhliche“ und freilich auch die Stille, die heilige Nacht.
Nach der Menge der Besucher muß das Geschäft auf Nürnbergs berühmtesten Markt gestern abend schon recht gut gewesen sein. Vor den Bratwurstständen drängten sich die Menschen, als ob sie etwas geschenkt bekommen würden, der Glühwein floß. Aber auch die Standl-Besitzer zwischen Zwetschgenmännla, orientalischen Süßigkeiten, Spielzeug, Christbaumschmuck und Lebkuchen beklagten sich nicht.
Die Kinderlein allerdings stehen dem Geschehen manchmal noch etwas hilflos gegenüber. Sagte doch die Sabine, geschätztes Alter fünf, zu ihrer Schwester Ingrid, geschätztes Alter acht, beim ersten Biß in die Zuckerwatte: „Und jetzt hab‘ ich denkt, des is a Bratwurst. Sabine offenbarte damit eine beachtenswerte Bildungslücke. Der elfjährige Erwin glich dieses wieder aus, als er beim Anblick einer blondgelockten Dame zu seinem Freund sagte: „Dou, schau amal hi, des is a dufter Rauschgiftengel.“
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