Andalusien: Wo röhrt der Hirsch?

Kerstin Wolters

Online-Redaktion

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2.3.2019, 08:00 Uhr
Blick in die Weite der Landschaft. Man hört die Hirsche rufen, doch man sieht sie noch nicht.

© Kerstin Wolters Blick in die Weite der Landschaft. Man hört die Hirsche rufen, doch man sieht sie noch nicht.

Leise pirschen wir uns heran und suchen, mit unserem Blick ihrem ausgestreckten Arm folgend, das Meer aus Felsen und Bäumen nach den Kontrahenten ab. Doch das Spektakel ist schon vorbei. Wir hören, wir sehen: nichts.

“Gestern Abend haben wir sie beobachtet, als zum Trinken hinunter an den Stausee kamen”, erzählen die Spanier stolz. Strandurlaub - pah - das sei nichts für sie, beteuern die beiden, die ihr Zelt auf einem Campingplatz in der Nähe aufgeschlagen haben. Ihre Frage, was es Schöneres gebe, als in den Ferien nach brünftigen Hirschen Ausschau zu halten, ist eine rhetorische. Es ist der Mirador Félix Rodriguez de la Fuente im Naturpark Sierras de Cazorla, Segura y las Villas, an dem wir das Ehepaar mit dem gelangweilt wirkenden Sohn im Teenager-Alter treffen. Und der Namensgeber des Aussichtspunktes ist an allem Schuld.

Denn Rodriguez de la Fuente ist quasi der Bernhard Grzimek Spaniens. Mit seinen Tier-Dokumentationen hat er ebenso wie der Deutsche einer ganzen Generation das Leben und Verhalten von Wildtieren nahegebracht.

Die spanische Fernsehserie "El hombre y la Tierra" (Der Mensch und die Erde), in der Rodriguez de la Fuente spektakuläre Aufnahmen der iberischen Fauna zeigte, wurde in den 1970er Jahren zum Straßenfeger. Einige der Filme sind im Naturpark Sierras de Cazorla, Segura y las Villas im äußersten Nordosten Andalusiens entstanden. Hier bekam der Naturforscher einen Adler, der ein Steinbock-Kitz reißt, heulende Wölfe, spielende Ginsterkatzen und röhrende Rothirsche vor die Kamera. Die Dokus von damals ziehen noch immer naturverbundene Touristen an, in erster Linie spanische, aber auch französische, deutsche, britische und amerikanische Gäste.

Während sich der Geländewagen die Serpentinen hochschraubt, versuchen wir angestrengt, Tiere im dichten Wald auszumachen. Stundenlang geht das so — ohne Erfolg. Landschaftlich ist dagegen einiges geboten. Wälder aus Steineichen, Kiefern und Lärchen bedecken die Hänge des Gebirgszugs, der sich über eine Länge von mehr als 100 Kilometern erstreckt und 2002 vom Geo-Magazin den Beinamen "Schwarzwald des Südens" erhielt. Schroffe Felsen wechseln sich mit sanft geschwungenen Hochebenen ab.

In den tiefen, engen Schluchten fließt der Río Guadalquivir, die Lebensader Andalusiens, der hier entspringt und 657 Kilometer weiter bei Cádiz in den Atlantik mündet. Der einzige schiffbare Fluss Spaniens speist auch den 18 Quadratkilometer großen Stausee El Tranco de Beas, der smaragdgrün in der Sonne glänzt. Die Hälfte des 214.300 Hektar großen Naturparks, dem zweitgrößten Europas, liegt auf über 1000 Meter Höhe. Las Empanadas — wie die gefüllten Teigtaschen — heißt der höchste Gipfel ( 2106 m).

Die Freude ist groß, als wir endlich ein gemütlich äsendes Rudel am Wegesrand entdecken. Doch unser Guide Jesús Ruiz Sanchez winkt verächtlich ab. "Das ist nur Damwild, das zu Jagdzwecken eingeführt wurde." Was wir sehen sollen und wollen, sind Rothirsche — oder zumindest einen von den 4000, die hier angeblich leben. Nach einer halben Stunde, in der wir so mucksmäuschenstill waren, dass uns sogar das Summen der Insekten lauter als ein Kampfjet-Geschwader vorkam, hören wir sie röhren.

Was für ein lautstarkes, schönes Naturereignis! Aus weiter Ferne erreichen uns ihre dunklen, lang gezogenen Rufe, die die Kühe beeindrucken und die männliche Konkurrenz erschauern lassen sollen. Je mächtiger der Brustkorb, desto größer der Resonanzkörper: Der stimmgewaltigste Hirsch macht das Rennen um die Gunst der Damenwelt, von der er nur zwei Monate im Jahr - zwischen September und Oktober - etwas wissen will.

Frohgemut ob des lautstark-schönen Naturschauspiels fahren wir weiter. Plötzlich flüstert Jochen, der aus der Dachluke des Geländewagens späht: "Da! Auf ein Uhr!". Jesús stoppt, und tatsächlich: Von rechts schreitet ein Rothirsch majestätisch aus dem Wald auf die Piste, würdigt uns eines kurzen Blickes und springt mit einem Satz wieder ins Gebüsch — zu schnell fürs Foto. "Kein Platzhirsch, eher ein noch junges Tier", analysiert unser Guide.

Egal, wir haben endlich den König des Waldes zu Gesicht bekommen! Mit noch mehr Glück sehen wir vielleicht auch noch ein Mufflon oder einen Iberischen Steinbock. Aber wahrscheinlich nur, wenn wir ganz leise sind...psst!

Mehr Informationen:
Spanisches Fremdenverkehrsamt www.spain.info/de, das diese Reise unterstützt hat.

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