Ischgl in der Sinnkrise
5.1.2018, 08:00 UhrSzenen von enthemmten Russen etwa, die Champagnerflaschen in Magnumgröße im Minutentakt köpfen und sich an ihrem Reichtum berauschen, bestimmten häufig das Bild der kleinen Gemeinde im Paznauntal. Und private Fernsehsender zeigen Szenen wie diese: Aus den Boxen wummert der Bass, das Partyvolk feiert wild und ausgelassen. Das nährt die Vorurteile gegenüber Ischgl. Nun möchte sich der Ort dagegen stemmen — für Glamour soll aber nach wie vor gesorgt sein.
An den Hängen tief hinten im engen Tal investieren sie kräftig. Jahr für Jahr wird renoviert, gebaut und neu erschlossen. Auch Stammgäste entdecken immer wieder etwas Neues. Ein riesiger Speicherteich sorgt jetzt für die nötigen Ressourcen, um die Pisten auch bei weniger Schneefall ordentlich zu beschneien. Und auf dem mit 2864 Metern höchsten Punkt im Skigebiet wurde die Palinkopfbahn aufgepeppt und kommt nun im modischen Anthrazit und beinahe lautlos daher.
Dreimal im Jahr geben sich internationale Künstler die Ehre. Rod Stewart, Bob Dylan, Elton John oder James Blunt spielten bereits auf der hochalpinen Bühne. Zur Eröffnung der Skisaison Ende November jubelten 20 000 Menschen der deutschen Schlager-Ikone Andrea Berg zu, an Ostern wird Max Giesinger seine Ischgl-Premiere feiern, für einen atemlosen Abschluss der Saison soll Helene Fischer sorgen.
Ischgl zieht die Massen an – auch in dieser Hinsicht muss der Ort einen Spagat vollziehen. Denn ohne alltagstauglichen Pop und alles, was damit zusammenhängt, geht es wohl nicht, viele Gäste hier wollen nicht darauf verzichten — Ischgl scheint in einem Hamsterrad gefangen. Trotzdem: Einen Andreas Gabalier etwa, der tausende Feierwütige anzieht, würden sie hier nicht verpflichten, und das Tragen von Skischuhen nach 20 Uhr ist im Ort unter Strafe verboten. Zudem patrouillieren Wachleute durch den kleinen Ort, um krakeelenden Lärmern Einhalt zu gebieten.
Das "Ballermann-Syndrom", wie es Tourismuschef Andreas Steibl nennt, steht denn auch im krassen Gegensatz zum hochpreisigen Angebot der zahlreichen Viersterne-Hotels und der gehobenen Küche, die man überall im Ort findet. Mehr Hauben und Sterne an einem Ort gibt es in ganz Tirol nicht. In Ischgl verwöhnen etwa die vom Feinschmecker-Führer "Gault- Millau" mit jeweils 18 Punkten ausgezeichneten Martin Sieberer und Benjamin Parth das anspruchsvolle Publikum, etwa mit Seesaibling auf Erdäpfeln mit Enzianschaum. Auf den Hütten im Skigebiet herrscht ebenerdig Selbstbedienung vor, eine Etage höher wird zumeist fein aufgetischt bei Champagner und Dorade im Kräutermantel.
Die Pisten gelten als anspruchsvoll, auf 238 Kilometern bieten sie auch genügend Platz für Individualisten. Fernab des gespurten Geländes finden sich weitläufige Tiefschneehänge, etwa am Piz Val Gronda. Mit der 2017 als Top-Skitour ausgezeichneten "Schmuggler-Runde" lebt eine in der Grenzregion altbekannte Tradition wieder auf. Früher wurden Tabak, Mehl oder Damenstrümpfe nach Österreich geschmuggelt, heute führen die Routen — in Gold, Silber oder Bronze gehalten — über verschiedene Streckenlängen und werden über eine leicht zu bedienende App erfasst. Am Ende des Tages sind Distanzen, gefahrene Höhenmeter und andere Details abzulesen. Erfolgreiche Schmuggler-Azubis nehmen an verschiedenen Gewinnspielen teil.
So spielerisch, wie sich Ischgl dieses Themas annimmt, ist die Wirklichkeit jedoch nicht. Zwar sind einige Zollhäuschen in die Jahre gekommen, doch noch immer fahren Beamte auf Skiern in der Grenzregion zwischen Österreich und dem zollfreien Samnaun, das zur Schweiz gehört, umher.
Erst ein Fondue, dann eine Rolex zum Nachtisch? In Samnaun kein Problem. Immerhin 50 Läden laden in dem kleinen Dörfchen ein, sich etwas Luxus für ein paar Euro weniger zu gönnen. Vom schottischen Hochland-Whiskey über Designer-Klamotten bis hin zur teuren Armbanduhr ist alles dabei. Wer erwischt wird, muss den Geldbeutel freilich noch einmal zücken.
Mehr Informationen:
Tourismusverband Ischgl-Samnaun
www.ischgl.com/de, der diese Reise unterstützt hat.
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