Lieber privat als Staat
09.01.2010, 00:00 Uhr
Der Schulleiter tätschelt jedem vorbeigehenden Knirps den Kopf, wechselt ein paar organisatorische Worte mit vereinzelten Eltern. Es geht um die Elternversammlung am Abend zuvor. Schulalltag wie überall.
Astrid Richter (Name geändert) gibt ihrer Tochter Sarah noch einen Kuss und wünscht ihr einen schönen Tag. Dann schließt sich das große Tor hinter der Achtjährigen. Es wird sich erst am späten Nachmittag wieder öffnen.
Seit dem ersten Schuljahr ist sie Mitglied im elitären Kreis der deutschen Privatschüler. Eine bewusste Entscheidung ihrer Mutter. Die gehört zu einer neuen Generation von Eltern, die rebellieren. Gegen das starre öffentliche Schulsystem, gegen veraltete Bildungskonzepte und gegen das Diktat der leeren Kassen. Richter bringt die Einstellung vieler Eltern auf den Punkt: «Die Eltern, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken, sind nicht immer reich, aber sie sind bildungsbewusst.»
Und bei ihnen hat der öffentliche Sektor anscheinend verloren. Wer eine kleine Chance sieht, sein Kind vor der deutschen Bildungskatastrophe zu bewahren, nutzt sie und tritt die Flucht zu den Privatschulen an. Von den 12 Millionen Schülern in Deutschland besuchte 2007 bereits jeder 13. eine private Bildungseinrichtung. Tendenz stark steigend. Zählte das statistische Bundesamt 2006 noch 4711 private Schulen, waren es ein Jahr später schon 4946. Im Schnitt kommen jede Woche zwei neue Bildungseinrichtungen dazu.
Eifertinger verwundert das wenig. Lang genug hat er als Beamter im bayerischen Schulsystem gearbeitet, um zu wissen, wo es hakt. «Wenn zum Beispiel bei BMW ein Change-Management-Prozess eingeleitet wird, was da an Geld in die Hand genommen wird. Und da geht es um Autos, nicht um Schüler. Bei der Einführung des G8 in Bayern - die komplette Änderung eines Systems - durfte jeder Lehrer eine Fortbildung machen. Mehr nicht.»
Eifertinger ist kein Mensch, der das staatliche Bildungswesen verteufelt. Im Gegenteil. «Eigentlich», betont er, «bin ich überzeugt von dem, was der Staat macht. Auch das, was die deutschen Lehrer machen, ist fantastisch - gemessen an den Mitteln, die sie zur Verfügung haben.» Er ist aber auch von etwas anderem überzeugt: Es geht besser. Das ist seine Berufung. Fünf Jahre hat er sich beurlauben lassen, will sich in privaten Schulen umschauen, von ihnen lernen und sein innovatives Wissen dann ins staatliche System übertragen. Er will sich anschauen, ob Kinder wirklich spielerisch Englisch lernen, wenn man sie möglichst früh damit konfrontiert.
Christiane Grimm (Namen geändert) hat noch andere Gründe, ihre Kinder an die Phorms-Schule zu schicken - und zwar alle drei. Sie will Carolina (10), Chris (9) und Chiara (7) den Druck ersparen. «An öffentlichen Grundschulen geht es doch nur ums Aussieben - wer darf aufs Gymnasium und wer nicht.» Bei Phorms werden die Grundschüler nahtlos an die nächste Stufe übergeben. Ohne Bruch. Später können sie sich entscheiden, ob ihnen der Realschulabschluss reicht, oder ob sie noch zwei Jahre dranhängen und mit dem Abitur abgehen. Ein Sonderweg, der seinen Preis hat. 600 Euro muss Grimm im Monat hinlegen - pro Kind. Eine stolze Summe, die Privatschulen im allgemeinen angreifbar macht.
Als Emporkömmling der Phorms-Management AG in Berlin verkörpert die Münchner Schule eine ganz neue Herangehensweise an Bildung. Aus der Misere des Staates auf dem Gebiet soll Profit geschlagen werden. Private Investoren haben dem Unternehmen 15 Millionen Euro Startkapital zur Verfügung gestellt mit der Aufgabe, Deutschland mit einem Privatschul-Netz zu überziehen. Gründungswillige Elterninitiativen können sich so zum Beispiel an die Phorms AG wenden, bekommen einen Kredit, Möbel und Lehrer. Irgendwann, wenn sich das Konzept rechnet, können sie die Schulden an Phorms zurückzahlen, und Investoren bekommen ihre versprochene Rendite. So die Theorie.
Um den ersten Vorwurf der horrenden Schulgelder etwas abzuschwächen, bietet Phorms nach Einkommen gestaffelte Beiträge an. Eltern mit einem Jahreseinkommen unter 20 000 Euro zahlen in München 65 Euro im Monat, bei mehr als 250 000 Euro schnellt das Schulgeld auf 835 Euro.
Ein Spottpreis, verglichen mit der «Franconian International School» (FIS) in Erlangen. Eltern von Zwölftklässlern dürfen hier rund 1100 Euro hinlegen. Egal, was sie verdienen. Zwar übernimmt für einen Großteil der internationalen Manager-Kinder die jeweilige Firma das Schulgeld, doch der Anteil der Einheimischen wächst. Max ist so ein einheimisches Kind. Auf der öffentlichen Schule ist er nicht klargekommen, ist seit der achten Klasse an der FIS. Lässig die Hände in den Hosentaschen, ein Bein auf den Stuhl vor ihm gestellt, erklärt er, dass er selbst unbedingt auf die FIS wollte. Seine Eltern zahlen noch. «Ja klar, ich muss Leistung bringen. Bestimmte Noten. Was anderes zählt nicht.» Es gefalle ihm ganz gut. Die Lehrer seien cool, gingen viel mehr auf einen ein und seien motivierter.
Auch wenn in Max‘ Fall wohl nicht unmotivierte Lehrer der Grund für sein Scheitern an der öffentlichen Schule waren, bestätigen Bettina Müller und Beatrix Lux seinen Eindruck. Beide kommen aus dem staatlichen System, beide waren frustriert, beide haben sich an die FIS gerettet. «Es ist ein ganz anderes Arbeiten hier. Ich habe meinen eigenen Schreibtisch, kann Material bestellen, wann und wie viel ich will. Einfach nicht so viel Bürokratie», schwärmt Müller.
An privaten Schulen sammeln sich vor allem Kinder des besserverdienenden Bildungsbürgertums. Horst Weishaupt vom Deutschen Institut für internationale pädagogische Forschung beobachtet mit Bauchschmerzen diese Entwicklung. «Das Bundesverfassungsgericht hat die Schulpflicht erst kürzlich als wichtige integrative Funktion definiert. Gerade private Grundschulen unterlaufen dieses Prinzip.» Denn durch die horrenden Schulgelder komme es seiner Ansicht nach zu einer starken sozialen Entmischung. Auch das Grundgesetz ge- währt Schulgründungen nur unter einer Bedingung: «Eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern darf nicht gefördert werden.»
Das große Problem: Es setzt sich mehr und mehr eine Spaltung in bildungsferne und bildungsnahe Schichten durch, hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) herausgefunden. 59 Prozent der Kinder an Privatschulen haben mindestens einen Elternteil mit Abitur. In der gesamten Schülerbevölkerung stellt diese Gruppe aber nur ein Drittel. Zwar spielt auch das Einkommen der Eltern bei der Entscheidung für eine Privatschule eine Rolle, aber weniger als ihr Bildungsgrad. «Wir haben dadurch eine zunehmende Negativauslese in unserem Schulsystem, die so nicht gewollt ist», sagt Katharina Spieß, Bildungsökonomin am DIW. Auch Eifertinger bezeichnet seine Phorms-Schule gerne als eine große Käseglocke. Er versucht sie zu durchbrechen. Durch Stipendien und durch gemeinsames Lernen mit behinderten Kindern.
Ähnlich funktioniert das System der Jenaplan-Grundschule in Nürnberg. «Schwache und hochbegabte, behinderte und gesunde, deutsche und Migrantenkinder. Wir wollen sie alle haben», sagt Birgit Wiedschorek, Hortleiterin bei Jenaplan. Haken an der Sache: In Bayern gibt es keine weiterführende Jenaplan-Schule. Die Kinder werden also nach der vierten Klasse ins staatliche Schulsystem geworfen. Ob Jenaplan-Kinder besser klarkommen, als andere, ob ihre Leistungen die 180 Euro monatliches Grundschulgeld rechtfertigen, darüber gibt es keine Zahlen.
Überhaupt wurde der Erfolg von Privatschulen bisher wenig erforscht. Doch die vereinzelten Studien zeichnen ein einheitliches Bild: Privatschulen sind kein Garant für gute Leistungen. So weisen die Bildungsforscher Corinna Preuschoff und Manfred Weiss vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation darauf hin, dass oft behauptet wird, Privatschüler seien besser. Vergleiche mit öffentlichen Schülern belegen das.
Jedoch hat man in keinem dieser Vergleiche Rücksicht darauf genommen, dass die Sozialstruktur an Privatschulen eine ganz andere ist. Vergleicht man nämlich die «Schülerschaft mit ähnlichem sozioökonomischem Status», so heißt es in der Studie, fällt auf, dass «staatsunabhängige Privatschulen keinen Leistungsvorteil gegenüber staatlichen Schulen aufweisen». Der Bildungsgrad der Eltern entscheidet also über die Leistung, nicht die Schule.
Lässt sich daraus nun schlussfolgern, dass all das viele Geld zum Fenster rausgeschmissen ist? Nützt es überhaupt nichts, wenn Otto, Sarah und Co. zu englischen Liedern vor modernen Smart-Boards tanzen?
«Ich weiß es nicht», gibt Sarahs Mutter zu. Doch das ist Astrid Richter eigentlich egal. Sie treibt noch etwas anderes um: «Der Staat macht es berufstätigen Müttern einfach sehr schwer. Die Kinder kommen um 11.20 Uhr aus der Schule. Die Betreuung danach bedarf viel Organisation.» Außerdem, so Richter, koste die auch verdammt viel Geld. Dann vertraut sie Sarah doch komplett Phorms an und weiß, hier ist alles aus einem Guss. Und das mit der sozialen Mischung, so ist sie überzeugt, kann man in der Erziehung ausgleichen.