Minuten entscheiden über ein Kinderleben

30.01.2010, 00:00 Uhr
Minuten entscheiden über ein Kinderleben

© Siebert

Gerade habe ich es mir in meiner geliehenen Klinikkleidung in der Teeküche bequem gemacht und den ersten Schluck Kaffee genommen, da schrillt es laut. Das klingt nicht gut, das höre sogar ich als Laie. Es ist kurz nach 22 Uhr. Die Hebammen, die eben noch entspannt beisammen saßen, springen auf und rennen über den Gang. «Soll ich mitkommen?», frage ich zaghaft. «Erst mal warten», bekomme ich als Antwort und höre kurz darauf das Wort «Notfallsectio» aus dem Stimmengewirr heraus.

So schnell kann es gehen im Kreißsaal des Südklinikums. Eben hatte ich noch darüber sinniert, ob ich bei dem seitlich angebrachten Bändchen, das die hellblaue Stoffhose zusammenhält, lieber einen Doppelknoten hätte machen sollen. Man will schließlich nicht plötzlich mit heruntergelassener Hose dastehen. Und plötzlich geht es um Leben und Tod.

Unschlüssig stehe ich in der Tür und schaue auf den Gang. Verzweifeltes Weinen ist zu hören, eine Hebamme sagt: «Ganz ruhig atmen!» Ein Bett mit einer hochschwangeren Frau darin wird vorbeigeschoben, es geht in den Operationssaal. Notfallsectio, das bedeutet Notkaiserschnitt. Minuten später sind alle versammelt: Gynäkologen, Kinderärzte, Anästhesisten, OP-Schwestern. Sie alle sind von einem unscheinbaren Knopf alarmiert worden. Ein einzigartiges System.

Eine Hebamme winkt mich herbei, ich darf auf einer Sitzgruppe vor dem OP-Saal Platz nehmen. Auf diesem Stuhl, neben diesem Tischchen mit Illustrierten, saßen schon ungezählte werdende Väter, viele sicher mit schweißnassen Händen, und beteten für gute Nachrichten. Obwohl, wie ich später erfahren soll, so eine Notfallsectio nur etwa einmal im Monat vorkommt. Und das bei rund 2300 Geburten jährlich. Aber das ist einem vermutlich ziemlich egal, wenn die eigene Frau hinter der Schiebetür auf einem Metalltisch liegt. Gegenüber steht ein «Patientenkühlschrank», wie ein Schild informiert, daneben eine kleine Anrichte mit Mineralwasser. Wenn es mal länger dauert, bieten sie auch einen Kaffee an, wird mir später Hannelore Köhler erzählen.

Die werdende Mutter ist inzwischen verstummt, eine Vollnarkose hat sie gnädig von der Angst erlöst. Ich darf jetzt in den kleinen Raum neben dem OP-Saal gehen, in dem sich Ärzte und Schwestern umziehen. Ein kleines Fenster erlaubt den Blick auf Ärzte, Schwestern und die Hebamme, die um die Mutter herumwuseln, so erscheint es dem Laien; dabei sitzt jeder Handgriff. Der kleine Raum riecht streng nach reinem Alkohol. Ich hatte gedacht, so ein Kaiserschnitt gehe schneller. Ein Schnitt, ein Griff, Baby da. Falsch gedacht. Die Zeit vergeht quälend langsam. Ich schaffe es, bis das blutverschmierte Köpfchen zu sehen ist. Das Baby hat dunkle Haare.

Dann spüre ich ein Rauschen in den Ohren und weiß, ich sollte mich setzen. Das Baby sehe ich erst wieder, als es schon sauber und trocken ist. Rosig sieht es aus, auf die Kinderstation kommt es trotzdem erst mal. «Das Kind hatte großen Stress und auch etwas von der Vollnarkose abbekommen», erklärt Hannelore Köhler. Deshalb werde es eine Weile beobachtet. «Dann kann sich die Mutter auch in Ruhe von der Narkose erholen», sagt die Hebamme.

Kurz nach der Operation ist von der Hektik wenige Minuten zuvor nichts mehr zu spüren. Eine der OP-Schwestern erzählt im Gang gut gelaunt von den Zwillingen ihres Bruders, die auch hier zur Welt kamen und zeigt ein Foto auf ihrem Handy. Ein Putzmann schiebt seinen Reinigungswagen in den OP-Saal und feudelt routiniert die Blutlachen weg. Die Hebammen gehen in die Teeküche zurück.

Wenn die Frau aufwacht, wird man ihr sofort sagen, warum alles so schnell gehen musste. «Für Erklärungen war vorhin keine Zeit, da geht es um Minuten.» Das sei für die Frauen in dem Moment furchtbar. «Aber wenn wir es ihnen später erklären, sind sie froh und dankbar, dass ihr Kind lebt.» In diesem Fall war die Mutter elf Tage über dem errechneten Geburtstermin. Daraufhin wurden die Wehen eingeleitet. Doch die Nabelschnur kam zuerst. Hätte man die Geburt weiterlaufen lassen, hätte das Köpfchen die Nabelschnur abgedrückt. Das Kind wäre erstickt.

In einem solchen Fall ist ein Kaiserschnitt unabdingbar – und rettet Leben. Gibt es keinen medizinischen Grund, sind die Hebammen aber eher gegen den Eingriff, auch wenn die Wahl jeder Frau offensteht. «Beim Kaiserschnitt gehen dem Kind wichtige Glückshormone verloren, die die Mutter bei einer natürlichen Geburt produziert», erklärt Köhler. Auch für die Mutter-Kind-Bindung sei sie besser. Dass viele Frauen den Kaiserschnitt als die bequemere und weniger schmerzhafte Lösung ansehen, sei oftmals das Ergebnis falscher Vorstellungen: «Es geht schneller, ja. Aber hinterher hat man länger Schmerzen. Es ist eine richtig große Bauch-OP.»

Das Telefon klingelt. Eine Schwangere ist sich nicht sicher, ob sie einen Blasensprung hat. «Wenn es nicht mehr aufhört zu laufen, klingt das schon sehr danach», sagt Hannelore Köhler. Die junge Frau war schon zweimal im Krankenhaus, weil sie dachte, es ginge los. Sie will nicht schon wieder umsonst herfahren. «Ist doch nicht schlimm, Sie können auch noch ein viertes Mal kommen», beruhigt Köhler sie. «Es ist ganz normal, dass Erstgebärende nicht genau wissen, wann es losgeht. Die machen das schließlich zum ersten Mal.»

Hannelore Köhler hat, so schätzt sie, schon rund 2000 Babys auf die Welt geholfen. Ihr Sohn, inzwischen erwachsen, habe sich als Jugendlicher irgendwann geweigert, mit seiner Mutter einkaufen zu gehen. «Er hatte keine Lust mehr, fremde Babys zu bewundern.» Erinnern kann Hannelore Köhler sich freilich nicht an alle Mütter. Ihr Trick: «Frauen mit Kinderwagen grüße ich prophylaktisch zurück.»

Gegen halb eins verabschiede ich mich von den Hebammen. Als ich gerade gehen will, fällt mir ein: Ich muss mich noch umziehen. Beinahe wäre ich in der Klinikkleidung nach Hause gegangen.

Keine Kommentare