Nürnbergs Nachtarbeiter: Klinik-Tierarzt Sergej Sulejmanov
21.04.2010, 00:00 Uhr
Es gibt Berufe, die hinterlassen Spuren. Kfz-Mechatroniker bekommen das Motoröl unter den Fingernägeln nicht weg, so sehr sie auch schrubben. Fußballer erkennt man an den O-Beinen. Bei Sergej Sulejmanov verrät ein Blick auf die mit Kratzern übersäten Unterarme: Er ist Tierarzt. Und: Katzen sind äußerst wehrhafte Tiere. »Wenn wir merken, dass eine Katze aggressiv ist, ziehen wir Lederhandschuhe an«, sagt der Tierarzt. Manchmal aber wirken die Stubentiger anfangs ganz harmlos.
Die größten Schmerzen bereiten in der Regel aber weder Katzen noch Hunde, sondern – Nager. »Hier«, sagt der 29-Jährige und hält einen Zeigefinger hoch, »hier hat mich eine Rennmaus gebissen.« Dabei war schon alles vorbei, die Spritze längst verabreicht – aber der Nager zeigte sich nachtragend. »Der hat gar nicht mehr losgelassen. Das hat vielleicht geblutet«, erzählt der Tierarzt und grinst. Bissige Rennmäuse und kratzbürstige Katzen kommen in dieser Nacht nicht zu Sergej Sulejmanov. Überhaupt bleibt es relativ ruhig. Das ist bei weitem nicht immer so: Die Tierärztliche Klinik in der Obermaierstraße (Nähe Nordring) ist eine der wenigen in Nürnberg, die einen nächtlichen Notdienst bieten. Und das nicht nur auf Abruf: Ein Tierarzt ist immer vor Ort. Wenn nichts zu tun ist, legt er sich schlafen.
Das jedoch scheinen manche Menschen nicht zu bedenken. Bevor er seinen Feierabend antritt, berichtet Sulejmanovs Kollege Uwe Dinter von einem besonders ungewöhnlichen Anruf: »Nachts um 3 Uhr weckte mich ein Mann mit einem Anruf und erzählte, er spiele gerade eine Runde ,Trivial Pursuit‘, wie lang denn die Trächtigkeitsdauer bei Igeln sei.« Dinter gibt zu, nicht allzu freundlich geantwortet zu haben.
Von außen wirkt die Klinik unscheinbar. Drinnen aber verbirgt sich Hochtechnologie fürs Tier: ein Computertomograph zum Beispiel, eigentlich für Menschen gedacht. Doch die Klinik kaufte ihn gebraucht, stattete ihn mit neuer Technik aus und durchleuchtet damit nun Struppi und Miez. Ein Stockwerk höher geht es zur Anmeldung und zu den Behandlungsräumen. Zwei Hunde springen zur Begrüßung herbei. Sie gehören Klinikmitarbeitern. Die dürfen ihre Vierbeiner nämlich zur Arbeit mitbringen. Milla und Julie tollen gemeinsam über den Flur, bis ihre Frauchen sich auf den Heimweg machen.
Nach und nach machen alle in der Klinik Feierabend. Nur Praktikantin Regina Rumpel leistet Sergej Sulejmanov am Ende noch Gesellschaft. Der erinnert sich an wesentlich stressigere Nächte: Da war der Hund mit der Magenumdrehung, den er vier Stunden lang operierte. Da war aber auch der Mann, der ankündigte, er komme gleich mit seinem verletzten Hund vorbei. Der Tierarzt bereitete alles für eine Operation vor – und wartete, zwei Stunden lang. Vergebens. Und da sind immer wieder Menschen, die um 4 Uhr morgens anrufen, um zu fragen, ob es schlimm sei, dass ihre Katze seit einer Woche Durchfall hat. »Da frage ich mich, warum ihnen das nicht tagsüber einfällt«, sagt Sulejmanov, der vier Jahre lang in Russland praktizierte, bevor er vor zwei Jahren in der Tierklinik anfing.
Eine Frau mit einer kleinen Transportbox in der Hand betritt die Praxis. Sie wirkt aufgelöst, die Haare sind zerzaust, das Gesicht gerötet. Ihrem Meerschweinchen geht es schlecht. »Mir ist schon mal in kürzester Zeit ein Schweinchen weggestorben, deshalb bin ich gleich hergekommen«, sagt sie und schnieft leise. Regina Rumpel hält das Meerschweinchen fest und streichelt es, während der Tierarzt es untersucht. Im Behandlungsraum hängen Fotos von Tieren, denen die Tierärzte der Klinik das Leben gerettet haben, viele mit Danksagung. Dafür hat die Tierbesitzerin jetzt keine Augen. Ihr Blick haftet am kleinen Fellknäuel auf dem Behandlungstisch.
Sulejmanov ist froh über jedes Tier, dem er helfen kann. Das Kätzchen zum Beispiel, fünf Monate alt, dem ein Hund den halben Unterkiefer weggebissen und die Schulter gebrochen hatte. »Inzwischen ist alles wieder gut. Das Kätzchen läuft, frisst, springt, und die Besitzer sind begeistert«, erzählt Sulejmanov. Auch der geglückte Kaiserschnitt bei einem Degu (ein Nagetier, etwa so groß wie ein Hamster) fiel aus dem alltäglichen Rahmen.
Kater Neelix geht es schon wieder besser. Er kam vor drei Tagen in die Klinik, die Blase riesengroß. »Er konnte nicht mehr pinkeln«, sagt der Tierarzt pragmatisch. Nun sitzt Neelix in einem Käfig in der Klinik und wartet, dass er wieder nach Hause darf. Am Wochenende kann der Blasenkatheter endlich entfernt werden.
Neben ihm sitzt eine Perserkatze mit Halskragen. Sie wollte nichts mehr fressen. In der Klinik hat man Haarballen in ihrem Magen gefunden, die den Zugang zum Dünndarm versperrten. Inzwischen hat sie wieder Appetit. Den Halskragen trägt sie, damit sie die Wundnaht nicht aufleckt. Kater Streuner, der mit Wasser in der Lunge in die Klinik kam, sitzt zwar noch in der Sauerstoffbox, wird aber überleben.
Die Erinnerung an Erfolgserlebnisse hilft Sulejmanov, wenn er mal nicht mehr helfen kann. Wenn der Tumor zu schnell wächst. Oder das Kaninchen mit der gebrochenen Pfote nach der Operation stirbt, weil es die Narkose nicht verkraftet hat. Oder wenn er stundenlang versucht, die geplatzte Leber eines Hundes zusammenzuflicken und der am Ende doch stirbt.
Ein Glück, dass die Geschichten mit Happy End überwiegen. Nachdem er Zähne, Ohren und Augen untersucht und das Meerschweinchen gründlich abgetastet hat, steht Sulejmanovs Diagnose fest: Es hat eine Lungenentzündung. Der Tierarzt verabreicht eine Spritze mit Antibiotikum. Das Schweinchen quiekt wie am Spieß. »Ich kann das gar nicht mit ansehen«, sagt sein Frauchen und hält sich die Hände vors Gesicht. Der Tierarzt gibt der Frau Medikamente für das Schweinchen mit und beugt sich zum Abschied zu dem Tier hinunter: »Jetzt geht es dir bald besser.« Dankbar verabschiedet sich die Frau.
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