Rottweiler Boss ist kein Beißer
17.04.2009, 00:00 Uhr
«Wir werden heute seine Umgänglichkeit testen», sagt Unger, einer der 37 öffentlich bestellten und beeidigten Sachverständigen für Hundewesen in Bayern. «Seine Umgänglichkeit insbesondere gegenüber Kindern.» Unger nimmt ein Leckerchen. Hält es dem Hund hin. Boss greift es sich gierig. «Aha», sagt der Gutachter und zieht die Hand zurück, «seine Futteraufnahme ist sehr rabiat.»
Drei Einstufungen für Hunde gibt es in Bayern: Entweder der Hund ist überhaupt nicht aggressiv. Das ist dann einer, der alles mit sich machen lässt – der ideale Kinderhund eben. Oder er ist normal aggressiv. Das heißt, er zeigt zum Beispiel mit einem Knurren an, dass ihm etwas nicht passt. Oder er reagiert gesteigert und im Ernstfall unkontrollierbar aggressiv. Diese Tiere müssen im Extremfall eingeschläfert werden. 55 Prozent, schätzt der Hundeexperte, gehören zur ersten Gruppe, 45 Prozent zur zweiten. Und fünf Prozent sich echte Problemfälle. «Dazu zählen nicht nur Kampfhunde. Das kann auch ein Golden Retriever sein.»
Unger geht auf die Knie, ist jetzt auf Augenhöhe mit dem vierjährigen Rüden. Wie ein Kind. «Hunde unterscheiden nicht zwischen Erwachsenen und Kindern. Für sie gibt es nur groß und klein», erklärt Unger. Boss schaut weg. Bernd Unger knurrt ihn an. Boss blinzelt und hechelt. Der Sachverständige zieht ihn leicht am Ohr. Knufft das Tier. Keine Reaktion. Boss hat die erste Prüfung bestanden.
Test Nummer zwei: die Wehrhaftigkeit. Marcel Combé, der Hundetrainer des Tierheims, führt Boss nach draußen. Mit Beißkorb. Außerhalb des Tierheimgeländes wird der Hund an einen Pfosten gebunden. Combé, quasi Interims-Herrchen, entfernt sich. Der Rottweiler wird, so der Fachausdruck, vereinsamt. Dann geht Bernd Unger auf ihn zu, schwingt bedrohlich einen Spazierstock. Wie leicht ist der Hund reizbar? Boss duckt sich, leckt sich über das Maul, schaut weg, zieht Ohren und Rute ein, hebt die Vorderpfote.
Combé kommentiert: «Das sind typische Beschwichtigungssignale. Der Hund sagt: Ich tu’ dir nichts, tu’ du mir auch nichts.» Unger geht mit dem Stock auf den Hund los, deutet Schläge an, ohne ihm Schmerzen zuzufügen. Boss will ausreißen. Will sich der Situation entziehen. Die weiteren Schikanen erträgt er stoisch, selbst als Unger ihn an der Rute packt. Der Hund scheint dem Gutachter den Test auch nicht nachzutragen. Er schnappt sich freudig ein Leckerchen, wedelt freundlich mit dem Schwanz. Endlich hat er seine Ruhe.
Boss auf dem Auslaufgelände des Tierheims. Ein Zaun trennt ihn von vier anderen Hunden. Die bellen. Boss markiert. Überhaupt markiert der unkastrierte Rüde viel. «Typisches Territorialverhalten eines Rottweilers», erklärt der Hundetrainer. Aber einschüchtern lässt sich Boss von dem fremden Rudel nicht. «Das ist kein Angsthase», sagt Unger. Überhaupt deutet die Körperhaltung auf dominantes Verhalten. Selbstsicher ist er.
Ein Beißer ist Boss dennoch nicht. Aber auch kein Familien-, kein Kinderhund. Ungers Urteil: Gruppe zwei, normale Aggressivität. «Vom Einschläfern ist das Tier Ozeane entfernt. Er braucht einen verantwortungsbewussten Führer mit gefestigtem Charakter und Hundeerfahrung.»
Am besten einen mit Garten, denn an der frischen Luft ist Boss viel gelassener als in geschlossenen Räumen. Das Foyer an diesem Samstag, als Boss nach dem Kind schnappte, war voll, überhitzt, laut. «Ich glaube», sagt Unger «das Tier wollte flüchten, wollte raus.» Und die Fünfjährige war unglücklicherweise im Weg. «Es war leichtsinnig, den Hund in diese Situation zu bringen. Aber ich unterschreibe sofort, dass er das Mädchen nicht beißen wollte.»
Boss hat sich hingelegt, der große Kopf ruht auf den Vorderpfoten. Wenn er ein neues Zuhause gefunden hat, muss er dort noch einmal einen Wesenstest über sich ergehen lassen.
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