Schnelle Hilfe für Ertrinkende
01.10.2010, 20:52 Uhr
Am Anfang steht die Theorie. 17 Jungs und Mädchen der Paul-Ritter-Schule lauschen im Klassenzimmer den Ausführungen von Patrick Germer. Wobei „lauschen“ vielleicht nicht ganz das richtige Wort ist. Die Acht- bis Zehnjährigen sind zum Teil hörgeschädigt, zum Teil gehörlos. Manche Kinder tragen ein Hörgerät, andere ein Cochlea-Implantat. An der Wand kleben Bilder von Stars wie Pamela Anderson, Lady Gaga und Bob Marley. Patrick Germer doziert im ganz normalen Plauderton, ohne betont langsam oder laut zu sprechen. Trotzdem saugen die Kinder alles in sich auf.
Zum Beispiel den simulierten Notruf. Aufgeregt stottert Kollegin Anna Bambach in ihr Handy: „Kommen Sie schnell, da ertrinkt gerade einer!“ Und Klapp, schon ist das Handy wieder aus. „Was hat Anna falsch gemacht?“ fragt Patrick Germer in die Runde. Finger schnellen nach oben. „Sie hat nicht gesagt, wo das passiert ist!“ Und was noch? „Ist da jetzt einer betroffen, oder ist da vielleicht ein ganzes Ruderboot gekentert?“, gibt Patrick zu bedenken. „Vielleicht schickt die Feuerwehr nur einen Wagen, und dann sind zehn Mann im Wasser und wollen gerettet werden.“ Und das Wichtigste: Anna hat ihr Handy wieder ausgemacht, bevor der Mann in der Rettungsleitstelle zurückfragen und alle Informationen sammeln konnte. Das darf nicht sein!
Trocken ist alle Theorie, erfrischend ist die Praxis. Die Paul-Ritter-Schule für hörgeschädigte und gehörlose Kinder verfügt über einen Vorzug, von dem die DLRG-ler nur träumen können: eine eigene Schwimmhalle! Drinnen herrscht Saunaklima. Ach, jetzt ins Wasser hupfen! Doch nein, das Opfer steht schon bereit. Lisa Althammer (19) leistet gerade ihr Freiwilliges Soziales Jahr ab, indem sie im schicken Badedress die Wasserleiche markiert. „Natürlich kann Lisa richtig gut schwimmen, aber heute hat sie es vergessen“, warnt die Lehrerin die Kinder vor.
Traurig blubbern die Luftblasen empor
Und schon geht’s los: Erst schwimmt Lisa in kraftvollen Zügen durchs Becken, auf einmal geht sie unter, wedelt mit den Händen, ruft um Hilfe, geht wieder unter, traurig blubbern ein paar Luftblasen empor. Im nächsten Moment hechtet Jörn Knoblich ins Wasser, krault heran, packt Lisa und zieht sie an Land. Das dauert nur wenige Sekunden.
Lisa ist „ohnmächtig“ und rührt sich nicht. Die Kinder hält es nicht mehr auf der Sitzbank, erschrocken und neugierig zugleich umstehen sie den Ort des Geschehens. Jörn Knoblich lauscht an Lisas Brust, ruft der Lehrerin zu, den Notruf zu alarmieren. Kommt jetzt die Mund-zu-Mund-Beatmung? Bevor es ernst wird, richtet Lisa sich wieder auf. Jörns Ehefrau Claudia Knoblich repetiert das Geschehene: „Was hat die Lisa denn gemacht?“ – „Sie hat sich an den Mann geklammert.“ – „Richtig, und der Jörn hat sich aus ihrem Griff befreit und sie seinerseits in einem Rettungsgriff an Land gezogen. Und dann? Wie lautet nochmal die Nummer?“ – „Eins eins zwei!“
Es folgen noch weitere Tauchgänge und Rettungsaktionen. Lisa muss viel Wasser schlucken, nach Rettungsringen und -bällen greifen oder sich im Wasser einen Rettungsgurt überstreifen lassen. Wie fühlt sich so ein Gurt an? Die kleine Sara lässt sich gürten und von ihrer Freundin Empru durch die Halle führen.
Was aber, wenn man nicht schwimmen kann oder sich im Wasser nicht allzu firm fühlt? Dann gilt es, mit Leinen, Badetüchern oder jedem verfügbaren Mittel dem Ertrinkenden zu Hilfe zu eilen, ohne sich selbst zu gefährden. 474 Menschen sind im vorigen Jahr in Deutschland ertrunken, darunter 29 Kinder. Auf einen Toten kommen zehn Beinahe-Todesfälle. 19 Prozent der Fünftklässler können keine 25 Meter weit schwimmen. Und wo sollen sie es lernen? Allein in Bayern haben in den letzten zehn Jahren mehr als 100 Hallen- und Freibäder dichtgemacht.
Deshalb reist die DLRG-Mitarbeiterin Anna Essing (26) von Neumarkt aus durch ganz Bayern und arbeitet mit wechselnden Lebensrettern pro Jahr rund 100 Schulen durch. „Auf drei Jahre ist die Präventionsarbeit angelegt, ein Jahr habe ich bereits hinter mir“, erzählt die Präventionsleiterin. Wenn die Frist um ist, sollen 30000 Kinder wissen, was im Notfall zu tun ist, und wie man sich selbst schützt. Noch besser aber: Richtig schwimmen lernen.
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