Wilde Varianten zum Wiederaufbau

23.8.2010, 00:00 Uhr
Wilde Varianten zum Wiederaufbau

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Endlich steht er vor der Altstadt. Das heißt, von einer "Stadt" kann man nicht mehr reden, eher von einem toten Herz. Von einem Pompeji des Nordens. Betritt der Besucher den Einlass neben einem der dicken dachlosen Tortürme, so kommt er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Überall übergrünte Trümmerhaufen, Fassaden und balkengestützte Wände, leere Fensterhöhlen und klaffende Bombentrichter. Erschütternd die Ruine der Lorenzkirche mit dem amputierten Christus; grausig das Elend der Sebalduskirche. Dresden beherbergt den Trümmerhaufen der Frauenkirche.

Nürnberg aber ist ein einziger Trümmerhaufen in Potenz. Andererseits ist nach 65 Jahren alles überwuchert, mit Efeu, wildem Wein und Schlinggewächsen. Dagegen nimmt sich das Heidelberger Schloss wie eine Gartenlaube aus. Diverse Ecken und Gassen sind komplett abgesperrt, Biotope für seltene Tiere.

Ungefährlich ist so eine Besichtigung nicht. Zutritt nur auf eigene Gefahr, mit Schutzhelm und unter Führung. Tagsüber drängen sich die Touristen. Wer Nürnberg wirklich erleben will, betritt es im Morgenrot oder am späten Abend, wenn Eulen und Fledermäuse herumhuschen. Oder er schließt sich den Gogerern an, sinistren Gestalten, die nachts durch die Kanalisation in die Altstadt eindringen und namenlose Orgien feiern...

Wenn Kritiker zu dichten anheben

Alle Führungen enden auf der Sebalder Steppe, inzwischen ein Hain aus Friedenslinden, Kranzabwurfbeeten und Gedenksteinen. Ein Monument ist Alfred Kerr gewidmet, auf dessen Vision 1945 das Trümmerensemble zurückgeht: "Dies aber ist dem Staub näher als der billigen Vorstellung zerrissener Wände, so dass im gegenwärtigen Augenblick der Gedanke nicht abwegig scheint: dieses Trümmertal seinem Zustand zu überlassen und ein neues Nürnberg nebenan zu erbauen. Das alte Nürnberg wäre dann eine Sehenswürdigkeit wie Pompeji..."

Klingt das zynisch? "Nürnberg-Pompeji" stellt nur einen von vielen Wegen dar, die die Stadt nach 1945 hätte beschreiten können. Und diese Vorstellung ist gar nicht einmal so abwegig. Man bedenke: 91 Prozent aller Gebäude waren beschädigt. Davon waren 38,6 Prozent leicht- und mittelschwer getroffen, 13,6 Prozent schwer und 38,8 Prozent total zerstört. Damit war Nürnberg nach Dresden die kaputteste Stadt Deutschlands. Die östliche Sebalder Altstadt war eine einzige Wüste. Die Hälfte aller Fabriken lag in Trümmern, sämtliche Straßen waren unpassierbar, Strom- und Gasversorgung lahmgelegt, die Bevölkerung ausgebombt und perspektivlos. Ein Wiederaufbau schien angesichts des umfassenden Ruins undenkbar.

Natürlich brauchten die Menschen Wohnungen. Aber wozu eine Altstadt überhaupt noch aufbauen, wenn eh alles in Trümmern lag und selbst die prominentesten Bauten schier unrettbar aus den Trümmern ragten? Die erste Maßnahme galt dem Aufräumen. Der Schutt füllte einen Raum von acht bis neun Millionen Kubikmetern. Eine Masse, voluminöser als die Cheopspyramide. Wohin damit? Nun, man könnte doch den Stadtgraben damit auffüllen. Und gleichzeitig die beschädigte Stadtmauer niederreißen. Ideen, die bereits im Juni 1945 auftauchten.

Doch von solchem Pragmatismus wollte der kommissarische Oberbürgermeister Julius Rühm nichts wissen. Und auch Alfred Kerrs Vision eines modernen Pompeji verlor sich im Papierkorb. Als sich die Trümmerhaufen lichteten, erhob sich 1947 die Frage nach einem planmäßigen Wiederaufbau. Nicht nur Architekten, auch die Bevölkerung war eingeladen, Vorschläge zu unterbreiten. "Tausend Gedanken für den Wiederaufbau" hieß der Ideenwettbewerb, der 1192 Vorschläge einsammelte. Ein Nürnberger schlug vor, die Straßenbahn in den Graben zu verlegen, und die Trambahn in "Grambahn" umzubenennen. Ein anderer wollte den Schuldturm zur Sauna umwidmen.

Willkommen im Wolkenkratzerkuckucksheim

Die schärfste Idee aber sah vor, eine "Wolkenkratzerburg" zu errichten. Innerhalb der Stadtmauern erhebt sich ein vielstöckiges Karree mit flankierenden Wolkenkratzern. Eine Symbiose aus amerikanischer Konstruktionstechnik und mittelalterlichem Baustil. Was wäre dabei herausgekommen? Wahrscheinlich ein Pendant zu Stalins monumentalem Zuckerbäckerstil, wie ihn die Lomonossow-Universität in Moskau verkörpert.

Indes, die Juroren nahmen den Wettbewerb der Laien nicht einmal zur Kenntnis. Große Beachtung in der Fachwelt fand hingegen der Wettbewerb ausgewiesener Architekten im selben Jahr. Das Rennen machten, wie wir alle wissen, Heinz Schmeißner und Julius Schlegtendal. Es hätte aber auch anders kommen können. Hätte sich Gustav Hassenpflug durchgesetzt, hätten wir heute eine monotone Zeilenbebauung, aus der nur Sebald, Lorenz, Frauenkirche und ein paar andere Bauten herausragen. Wer begutachten will, wie das ausgesehen hätte, der besuche Cardiff in Wales.

Ferdinand Streb und Fritz Trautwein wollten hingegen die gesamte Altstadt (bis auf die prominentesten Bauten) einebnen, in eine Wiese umwandeln und dann in drei Zehnjahres-Etappen modern aufbauen. Das Endergebnis, so um 1980 herum, hätte ein Nebeneinander aus alter und neuer Architektur, sowie überwältigend vieler Grünflächen und Parks bedeutet. So also haben wir einen Kompromiss aus Restauriertem, Modernem und Nachempfundenem auf Grundlage der alten Straßenzüge. Man mag sich fragen, was heute wäre, hätte Alfred Kerrs Idee sich durchgesetzt. Wahrscheinlich spräche man heute von der "Metropolregion Fürth", in deren Hinterhof "Nürnpomp" vegetiert. Und ganz Nürnpomp würde heute grün vor Neid nach Dresden blicken, das sich von seinem jahrzehntelang beweinten Trümmerhaufen verabschiedet und die Frauenkirche mustergültig wieder aufgebaut hat.