Wilde Kerle in Jeans

19.1.2013, 10:00 Uhr
Wilde Kerle in Jeans

© Heinz Wraneschitz

Er headbangt, grölt und tanzt mit anderen Fans im Moshpit. Beim Konzert seiner Lieblingsband Turbonegro trägt Michael Ruff aus Obernzenn das typische Fan-Outfit: eine Jeanskutte – das Markenzeichen der Turbojugend. Vorne ist sein Spitzname „Ye Barely Ol’ Landlord“ eingestickt, hinten liest man die Aufschrift „Turbojugend“ – gepimpt ist die Jacke mit zig Aufnähern von Rockbands.

Die wichtigste Regel: Die Kutte darf niemals gewaschen werden. Seinen Look verändert der 20-jährige Hardcoreler öfters: Mal läuft er mit Iro herum, ein paar Tage vorher hatte er noch eine Rockabilly-Tolle. Die Docs trägt er auf Konzerten immer, „damit es beim Pogen nicht wehtut, wenn dir jemand auf die Füße steigt“ .

Der Rock’n’Roll wurde Michael von seinem Vater in die Wiege gelegt. „Schon als kleiner Knirps hat mich die Mucke meines Dads fasziniert“, sagt er. Zusammen mit dem Vater ging es damals zum ersten AC/DC-Konzert. „Irgendwann entwickelte ich meinen eigenen Musikgeschmack. Ich höre am liebsten Hardcore und Punk-Rock“, erzählt der 20-Jährige. Aber nicht nur Michaels Vater ist ein eingefleischter Fan der harten Musik: „Zu einem Volbeat-Konzert sind wir als ganze Familie gegangen: Meine Eltern, mein Bruder und meine beiden Schwestern waren dabei!“ Eben eine richtige Osbourne- ...ääh, Ruff-Familie, die gerne mal auf den Putz haut!

Eigentlich ist Hardcoreler Michael aber ganz bodenständig. Nach seiner mittleren Reife hat er eine dreijährige Lehre zum Koch gemacht. Danach landete Michael in der Schweiz: „Ich habe ein Jahr als Koch im Hyatt-Hotel in Zürich gearbeitet.“ Tagsüber kredenzte er für Schöne und Reiche Haute-Cuisine-Menüs, für die man teilweise mehr blechen muss als für ein Smartphone.

Wilde Kerle in Jeans

© Wraneschitz

Damit führte Michael ein echtes Doppelleben: Nach getaner Arbeit in der Küche, schlüpfte er aus der braven Kochjacke in die Rockhaut, um mit Gleichgesinnten in der Kneipe zur heißgeliebten Rockmusik zu feiern.

Als Nächstes möchte Michael sein Fachabi nachholen, im Moment besucht er die FOS in Triesdorf. „Ich möchte später unbedingt etwas im Bereich Ernährung studieren.“ Ein entschlossener Blick – Michael hat sein Ziel vor Augen!

Wenn der Hardcoreler am Wochenende nicht auf einem Festival mit Dosenfraß, lauwarmen Bier und Schlafsack unterwegs ist, findet man ihn in seiner Rockbude in Obernzenn, dem „Schlachthaus“. „Vor vier Jahren habe ich den Dachboden über unseren Anbau in einen Partyschuppen umgebaut.“ Michael strahlt. Heute ist dieser Stammsitz seines Turbojugend-Vereins „Schlachthaus 18/3“, den er mitgegründet hat. Bands wie Chronic Aggression aus Obernzenn, Microwave Bitchcore aus Bad Windsheim oder die Nürnberger King Lui van Beethoven setzten die Bühne der „hölzernen Hölle“ mit ihren Gigs schon in Flammen. „Die Partys wurden so beliebt, dass es heute nur noch private Veranstaltungen mit Gästeliste gibt.“ Bei Feten müssen die Nachbarn Ohrstöpsel parat haben: Der 20-Jährige geht schon mal mit auf die Bühne und zertrümmert Gitarren!

„Ab einem gewissen Alkoholpegel steigt jeder auf den Billardtisch, der sich in einen Dancefloor verwandelt“, gesteht Michael. Am Ende einer langen Nacht liegt das gesamte Haus der Ruffs voller erschöpfter Kuttenträger, die schlafen wie Babys.

Und wie finden die Eltern die legendären Feiern neben den eigenen vier Wänden? Papa Ruff mischt mit, die Mutter ist sauer, wenn nach den Partynächten der Kühlschrank am nächsten Morgen total leergefressen ist. „Aber eigentlich hat sie die Leute, die zu Feten eintrudeln, in ihr Herz geschlossen“, meint Michael und grinst.

Extra Info:

Die „Kiss-Army“ ist seit Mitte der 70er Jahre der weltweite Fanclub der US-Rockband Kiss. An diese Idee knüpften 20 Jahre später die norwegischen Death Punks Turbonegro an: „Wenn Kiss eine Army haben, dann wollen wir eine Navy!“ So entstand die Turbojugend.

Turbonegro hatten erkannt, dass es heute nur noch eine Möglichkeit gibt, um mit und vor allem in der Rockmusik zu schocken: offen zelebrierte Homosexualität. So verpassten sich die Musiker aus Oslo unter dem Motto „Rock Against Ass“ ein betont schwules Image in engen Jeansanzügen, mit knallroten Lippen und bei Shows gerne mal mit Wunderkerzen zwischen den Arschbacken. Daher auch die Navy – nach dem Hit „In The Navy“ der tatsächlich schwulen Disco-Band Village People („Y.M.C.A.“). Heute ist die Turbojugend der größte uniformierte Fanclub der Welt. Erkennungszeichen ist die Kutte: eine dunkelblaue Jeansjacke mit Lederkappen-Logo und dem Namen des jeweiligen Chapters (Ortsgruppe) als Aufnäher auf dem Rücken.

Einmal im Jahr steigen die „Weltturbojugendtage“: Dann treffen sich sexy Sailors aus aller Welt in „Fred’s Schlemmereck“ in St. Pauli in Hamburg, um gemeinsam abzufeiern. Die Turbojugend ist inzwischen jedoch nur noch bedingt Fanclub der Band. Spätestens, als Turbonegro-Sänger Hank van Helvete Scientology beitrat und in Interviews gegen Homosexualität wetterte, kehrten sich viele von der Band ab. Auf Konzerten und Festivals sieht man Turbojugendliche heute vor allem sich selbst feiern. Turbonegro-Chef Happy Tom dazu: „Mit der Turbojugend haben wir Frankensteins Monster erschaffen, das nun außer Kontrolle ist.“

Stefan Gnad

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