"Shinrin-yoku": Ein Bad im Wald
1.7.2021, 11:35 UhrAbhilfe bei Stress sollen Achtsamkeits- und Entspannungspraktiken in Zweisamkeit mit Mutter Natur schaffen: An der frischen Luft aktiv sein und (Sonnen-)Energie tanken - anstatt im Strahlennetzwerk von Computer, Smartphone und Co. zu sitzen.
In einer Ausgabe des Annual Review of Public Health im Jahr 2014 steht, dass sich über die Jahre Forschungsfelder aufgetan haben, die die Korrelation von Gesundheit, Stress und der Natur untersuchen, der steigenden Naturverbundenheit nachgehen. Die zentrale Mission: Der Mensch sehnt sich nach "going back to nature", um vom "Alltagssums" detoxen und die Batterien wieder aufladen zu können.
Abenteuer Wald
Nach ausgiebiger Recherche, mache ich mich auf den Weg für mein erstes ausgiebiges „Bad“ im Wald, zusammen mit Elfi Dressler, einer Expertin in Sachen Stressabbau, Burnout-Prävention, Gesundheitsmanagement und Kursleiterin für Waldbaden-Achtsamkeit im Wald.
Am Eingang duftet es nach frischem Grün und den Terpenen, die der Wald absondert. Unter meinen Sneakern knacken Äste und trockenes Laub, die Baumkronen wiegen sich in der sanften Brise, der Himmel ist klar und es ist angenehm kühl.
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Wir treffen uns in der Stadenstraße in Nürnberg in einem nahgelegenen Waldgebiet, um ein Stück zu laufen.
Schon nach ein paar Schritten hält mich die Waldexpertin schmunzelnd zurück, macht mich darauf aufmerksam, dass ich mir ruhig mehr Zeit lassen soll.
Zeit – laut dem Dichter Atticus etwas was wir besitzen und uns dann doch gleichzeitig auch durch die Finger rinnt.
Ich bin gehetzt wie wohl alle Urbanistas und habe gar nicht bemerkt, wie ich schnellen Schrittes losgelaufen bin ohne mich umzusehen oder die verschiedenen Eindrücke des Waldes aufzunehmen.
Die routinierten Alltagsgepflogenheiten unserer Arbeitergesellschaft sind vollgestopft mit Terminen, Verpflichtungen und To-do Listen die nicht kürzer, sondern immer länger werden. Da sich über das letzte Jahr die Bedeutung der Arbeit und der herkömmliche Verlauf eines Arbeitstages verändert hat, gerät bei so manchen die Work–Life–Balance ins Wanken. Die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verschwimmen zunehmend, fordern Körper und Psyche durch die ständige Erreichbarkeit, Vernetzung bei mangelnder Bewegung heraus.
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Aber wie fährt man am besten runter? Eben noch dem Bus hinterhergejoggt, sich über Drängeleien in der U-Bahn geärgert, einen wichtigen Anruf oder eine Deadline verpasst.
Wir laufen deshalb bewusst langsamer und Elfi schlägt vor, sich dem Wald mit allen Sinnen anzunähern, aber vor allem zu tasten, fühlen und zu spüren. „Mehr sein als denken“, sagt sie. Denn die reinsten Erfahrungen sind jene, die Kinder machen, wenn sie die Welt um sich herum entdecken und nicht, wenn gleich drauflos definiert und gewertet, Biologiewissen über Cuticula und Co. herausgekramt wird.
Die Waldexpertin leitet mich an, langsam ruhiger zu werden, hilft mir, mich auf das Blatt zwischen meinen Handflächen zu konzentrieren, die harzige Rinde eines Baumstumpfes zu erkunden, das Stimmengewirr der Jogger und Familien auf den Spazierwegen auszublenden und dem Rauschen des Baches zu lauschen und dem Zwitschern der Vögel; den Wind auf der Haut spüren.
„In the forest, […] satisfy the soul baby“
Der Wald: In Märchen ist er der Dreh - und Angelpunkt für Grusel- und Abenteuergeschichten, er beherbergt als Ökosystem eine Vielfalt an Lebewesen und Pflanzenarten, Mediziner schwören auf ihn als Erholungsort, es gibt zig Arten von ihm auf dem Planeten, er fällt immer wieder und leider häufig Abholzungen, Bränden und Artensterben zum Opfer, obwohl er eine der wichtigsten Ressourcen des Menschen darstellt.
In der Zeit der Beschleunigungsgesellschaft, Digitalisierung und der Modernisierung hat die Rolle der Natur im Leben des Menschen wieder eine wichtige Position eingenommen.
Die Bedeutung der Natur wird in Fernostasien großgeschrieben, dorther stammt auch der Begriff „Skinrin-yoku“, das sogenannte Waldbaden.
In Einklang mit sich selbst und dem Wald zu kommen klingt einfach, da es ja die wichtigste Voraussetzung – den Wald – meist direkt vor der Haustüre gibt und man theoretisch nur noch loslaufen müsste. Lieber das Handy mal weglegen und die Couch verlassen, um ein paar tiefe Atemzüge an der frischen Luft zu machen und das Gedankenkarussell mit Erledigungen abzuschalten.
„Der Wald hat keine Erwartungen, wertet dich nicht, setzt dich mit keinen psychologischen Antreibern unter Druck so wie wir’s im Alltag kennen: höher, weiter, schneller – du musst dies oder jenes tun oder lassen oder jemand sein, der du eigentlich nicht bist!“, legt Dressler mir ans Herz. Sie kenne viele, die gleich drauflos stürmen wollen, da wir das Tempo und den Tunnelblick gewohnt sind. Doch sie rät mir, dem Wald zu erlauben, mir mit seiner entschleunigenden Wirkung Distanz zum Alltag zu wahren.
Ein weiteres Prinzip, das sie mir anvertraut: Staunen, sich wundern, nicht alles für selbstverständlich hinnehmen und eher wie ein Kind auf Entdeckungstour gehen. Das löse positive Gefühle und schütte Glückshormone aus, erde einen und erneuere Energiereserven ohne sich dafür wirklich anstrengen oder etwas leisten zu müssen.
Die Flucht aus dem Stadtleben hinein in das ursprüngliche Habitat des Menschen, soll wahre Wunder wirken, durch bessere Luftqualität und physische Aktivität. Experten bezeugen, dass sowohl psychische Erkrankungen, wie Depressionen und Angstzustände gelindert werden können, als auch physische Leiden, wie Bluthochdruck.
„Mach ruhig mal die Augen zu, dann fällt’s dir vielleicht leichter, dich drauf einzulassen“, meint Elfi.
How to Waldbaden
Für Dich ein paar Achtsamkeits- und Entspannungsübungen zum ausprobieren:
- „Baum im Wind“, bei der man seine Mitte findet und sich einen festen hüftbreiten Stand verschafft, sich bewusst wird, dass man gleichzeitig verwurzelt ist und sich doch frei bewegen kann. Nimm beim ein- und ausatmen ruhig mal Deine Arme mit und bewege auch Deine Hände.
- „Atmungstraining“– langsam, tief und regelmäßig ein- und ausatmen, jeden Atemzug bewusst machen.
- „Augentraining“: den Fokus und die Perspektive ändern, indem abwechselnd ein Objekt in der Ferne und dann eins in der Nähe fokussiert wird.
- „Gehmeditation“: im Wald ankommen durch Entschleunigung, den Weg und alles um sich herum bewusst wahrnehmen.
- „Achtsam hören“: sich auf ein Geräusch fokussieren und sich anschließend auf ein Neues konzentrieren - diesen Wechsel ein paar Mal wiederholen.
- „Tasten“: wie oben erläutert, den Wald wortwörtlich „fühlen“ - und vor allem auch riechen, denn Elfi empfiehlt mir ein paar Dinge in einem Glas zu sammeln für ein personalisiertes Waldparfüm.
Die Vorteile des Waldbadens sind vielfältig: Die Natur wirkt sich positiv auf Menschen aus – psychisch wie physisch, denn die Farbe Grün und die Duftstoffe, sogenannte Terpene aktivieren den Parasympathikus, Du kannst das Bewusstsein für die Umwelt, die Artenvielfalt und für Deinen Körper stärken, Dir vergegenwärtigen, was dir (nicht) guttut und die praktischen Tipps zur Stressreduktion in dein Afterwork-Programm mit einbeziehen.
Mehr Lust auf Wald? Hier ein paar Tipps:
- Bevor es losgeht: geeignete und wetterfeste Kleidung wählen, beachte Warnungen über FSME - Gebiete, packe genügend Proviant und am besten eine Sitzunterlage ein.
- Waldbaden funktioniert wie herkömmliches Baden: Man taucht in sein Umfeld ein, während man versucht, alle Stressoren um einen herum auszublenden.
- Waldbaden zeichnet sich durch engen Kontakt zwischen Menschen und Natur aus – ja, auch Bäume umarmen kann dazugehören muss, aber nicht! Unter anderem solltest Du aber die Baumrinde berühren, an den Blüten von Pflanzen riechen, den weichen oder harten Untergrund unter Deinen Schuhsolen, den Tau auf den Fingerspitzen und die Sonnenstrahlen im Gesicht spüren.
- Um Deine fünf Sinne zu schärfen und auf Dein Umfeld aufmerksam zu werden, musst Du tief in Dich gehen. Wichtig dabei: Achte auf Deine Atmung.
- Vermeide Ablenkungen! Smartphone, Terminkalender und Co. solltest Du beiseitelegen, damit Du den Aufenthalt im Wald bewusst genießen kannst.
- Lass Dir Zeit und sei geduldig mit Dir selbst, Entspannung kommt nämlich nicht auf Knopfdruck!
Übung (2) und (3) lassen sich auch gut für’s Büro adaptieren. Dafür musst Du einfach aufrecht sitzen und Dich auf Deine Atmung konzentrieren, beziehungsweise immer mal wieder den Blick vom PC oder dem Handy nehmen, nach links, rechts, unten und vor allem mal nach oben schauen, denn ein Perspektivwechsel kann auch dazu beitragen, dass Du das Hamsterrad durchbrechen kannst – zumindest für eine bestimmte (Aus-)Zeit jeden Tag.
Die nächsten Termine fürs Waldbaden in Nürnberg finden übrigens am Samstag, 18.09. statt. Mit dabei auch ein Waldbaden-Special, extra für Paare.
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