Kommentar: Einheit? Nur in Vielfalt
3.10.2020, 08:18 Uhr30 Jahre: Das ist ziemlich genau der Zeitraum des Entstehens einer neuen Generation. Eltern bekommen Kinder, die wachsen auf – die nächste Generation ist da. 30 Jahre: So alt, so jung ist der offizielle Vollzug der deutschen Einheit nun, an diesem 3. Oktober, dem nach wie vor etwas sperrigen Feiertag.
Und wie wir damit umgehen ist auch eine Frage der Generationen. Bei vielen älteren Ostdeutschen haben sich Spuren, oft Narben der Vereinigung eingegraben. Auf die Euphorie von 1989 folgte die Ernüchterung: Kollaps der ehemals angeblich volkseigenen Wirtschaft, Massenarbeitslosigkeit, durchkreuzte Lebensläufe, zu oft begleitet von gefühlter bis existenter Wessi-Arroganz. Das sitzt tief und bleibt haften trotz der vielen Erfolgsgeschichten, die "der" Osten längst erzählen kann. Wobei es "den" Osten nicht gibt: Wo sollte die Klammer zwischen Boom-Städten wie Dresden und zusehends leeren Landstrichen etwa in Vorpommern sein?
Unsere Volontäre über 30 Jahre Deutsche Einheit
Jüngere staunen über unsere Ossi-Wessi-Befindlichkeiten. Das zeigen auch die Beiträge unserer KollegInnen. Sie kennen Mauer und Grenze nur aus den Medien. Gut so. Denn vielleicht wächst erst da und erst jetzt zusammen, was laut Willy Brandt zusammengehört. Die entscheidenden Fragen dabei sind: Was macht ein Volk aus, was gehört dazu, um sich zusammengehörig zu fühlen? Und was gehört denn eigentlich zusammen? Deutschland ist immer gut gefahren mit seiner Vielfalt.
Das beginnt mit den Dialekten oder den Brot- und Wurstsorten und den Mentalitätsunterschieden. Die Klein- und Kleinststaaterei vor Napoleon war teils bizarr, führte aber dazu, dass in deutschen Landen (den einen Staat gab es noch nicht) viele blühende Städte entstanden, kaum tiefe Provinz und nicht nur die eine Moloch-Metropole wie Paris oder London. Auch der Föderalismus ist, trotz aller Defizite, ein Faktor, der wesentliche Element der Demokratie fördert: die notwendige Kontrolle von Entscheidungen wie auch ihre weitgehende Regionalisierung.
Stets ein Schmelztiegel
Und: Deutschland war stets ein Schmelztiegel, in dem sich Zuwanderer mit länger hier Lebenden mischten. Das gab Reibung – die am Ende meist produktiv war. Hugenotten, Polen, Vertriebene, nun Migranten wurden und werden oft integriert. Katastrophal wurde es in Deutschland dann, wenn andere ausgegrenzt, wenn die verordnete national(istisch)e Einheit über die Vielfalt siegte.
Was ist denn unsere gemeinsame Klammer? Neben der Sprache vor allem: das Grundgesetz, sein Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten. Zu wenig? Nein, ungeheuer viel. Denn aktuell zeigt sich, dass etwa die gleiche, absolute Würde aller Menschen keineswegs selbstverständlich ist für alle, die in Deutschland leben. Ausgrenzungen gefährden die Einheit in Vielfalt. Daran ist zu arbeiten, sicher länger als die nächsten 30 Jahre.
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