Mit Sport zurück ins Leben gekämpft

27.12.2013, 09:12 Uhr
Mit Sport zurück ins Leben gekämpft

© Katrin Müller

„Ich bin einfach süchtig nach Sport“, sagt Tim Kleinwächter, wäh­rend er die Tür eines Schränkchens öffnet und eine Tasse herausnimmt. Dass er nur sehr schlecht sieht, merkt man erst, als er die Tasse unter den Kaffeevollautomaten stellt und mit seinem Gesicht ganz nah an das Dis­play rückt. Er drückt einen Knopf. „Dad, kannst du mal schauen?“, ruft er, als das Gerät blinkt.

Sein Vater, Walter Kleinwächter, kommt in die Küche. „Du hast nur die Mengenanga­be verändert“, antwortet er nach ei­nem kurzen Blick auf die Maschine. Der heute 24-Jährige weiß, was zu tun ist, drückt die richtigen Knöpfe und der Kaffee fließt. Er kennt sich aus im Haus seiner Eltern, in dem er im ers­ten Stock eine kleine Wohnung hat.

Ein komisches Gefühl

An den Unfall kann Tim Klein­wächter sich nicht mehr erinnern und auch eine ganze Weile danach fehlt ihm im Gedächtnis. Es passiert auf dem Nachhauseweg vom Wein­turm-Open-Air am 6. August 2006. Mit zwei Kumpels fährt er mit den Fahrrädern nach Hause. Dass sich die Wege an der Raiffeisenstraße tren­nen weiß er noch – den Rest nur aus Erzählungen. Etliche Male ruft ihn sein Vater auf seinem Handy an, ohne Antwort. „Irgendwie hatte ich ein ko­misches Gefühl“, erinnert sich Walter Kleinwächter. Er geht los, um Tim zu suchen. Nur ein paar Hundert Meter vom Haus entfernt sieht er dessen Fahrrad auf der Straße liegen, Tim findet er auf der Ladefläche eines Pickups. Er ist nicht ansprechbar.

Walter Kleinwächter schleppt sei­nen Jungen ins Haus. Er und seine Frau Hilde vermuten zunächst, dass Tim zu viel Alkohol getrunken hat oder ihm jemand Drogen ins Getränk gekippt hat. Sein Zustand lässt dies vermuten, zumal er sich auch überge­ben hatte.

Die Eltern legen Tim in sein Bett und beobachten ihn. Als sich sein Zu­stand immer weiter verschlechtert, rufen sie den Notarzt. Plötzlich be­kommt Tim Kleinwächter Flecken im Gesicht und seine Atmung ver­schlechtert sich. Ein wenig später und er wäre gestorben, wissen die Eltern heute.

Im Krankenhaus wird er durchge­checkt. Die Ärzte stellen weder Dro­gen noch Alkohol im Blut fest. An­hand der Bilder einer Computer-Tomografie sehen die Ärzte den faustgroßen Bluterguss im Kopf. Mit dem Hubschrauber wird der 17-Jährige in die Uniklinik nach Würzburg geflogen und operiert. Da er viel Kohlenstoffdioxid im Blut hat, wird er an ein spezielles Gerät, das es damals nur in wenigen Klini­ken in Deutschland gibt, angeschlos­sen und das Blut wird gereinigt. „Das war sein Glück, dass dieser Arzt dort ein solches Gerät hatte“, sagt Tims Vater.

Tim Kleinwächter fällt in eine Art Dämmerschlaf, aus dem er erst am 3. September 2006 wieder aufwacht. Als er die Augen öffnet, ist alles schwarz. „Ich dachte mir, das kann nicht sein und hab’ die Augen wieder zugemacht.“ Als er sie wieder öffnet, sieht er graue und schwarze Sche­men. „Ich will da heute nicht rauf und helfen“, das war einer seiner ers­ten Gedanken, an den er sich er­innert. Tim ist der Meinung, es ist noch das Wochenende Anfang August und er hat Dienst beim Open-Air – von dem Unfall weiß er nichts.

Sogar die Ärzte waren verblüfft

Farben erkennt er heute wieder. „Es ist wie beim Ameisenrennen am Fernseher, nur in vielen verschiede­nen Farben“, erklärt Tim Kleinwäch­ter. Bis es ihm allerdings so gut geht wie heute, ist es ein langer Weg – für ihn und seine Familie.

Zur Reha kommt er nach Bad Neustadt an der Saale. Eine Zeit lang nimmt sich sei­ne Mutter ein Zimmer dort, um bei ihrem Sohn zu sein und ihn zu för­dern. „Sie hat viel über Schädel-Hirn-Trauma gelesen und viel mit Tim ge­macht – das hat viel dazu beigetra­gen, dass es wieder aufwärts ging“, sagt Walter Klein­wächter.

Tim muss die meisten Dinge neu lernen. Die rechte Körperhälf­te ist gelähmt, sei­ne Lunge veräzt durch das Erbroche­ne, das er eingeatmet hat. Bleibende Schäden trug er dadurch nicht davon. Seine Sehnerven allerdings wurden durch die Hirnblutung so stark ge­quetscht, dass sie dauerhaft geschä­digt sind. Er macht schnell körperli­che und geistige Fortschritte und ver­blüfft dadurch alle, auch die Ärzte.

Er werde nie wieder ein Buch lesen können, haben die nämlich gesagt, daran erinnert sich Tim Kleinwäch­ter. „So viel wie jetzt hab’ ich vorher nicht gelesen“, sagt er und ist sicht­lich stolz. Dafür braucht er aber auch Hilfsgeräte. Finanziell muss die Fa­milie deshalb einiges stemmen. Mit einem speziellen Computerpro­gramm kann Tim beispielsweise selbstständig arbeiten, Buchstaben so vergrößern, dass er sie sehen kann – mit Vorlesefunktion.

Seinen Traumberuf Zimmerer kann Tim Kleinwächter nicht erler­nen, obwohl er den Lehrvertrag be­reits unterschrieben hatte. Er muss sich komplett neu orientieren. Die Schule hatte er mit dem Quali beendet und bereits ein be­rufsvorbereitendes Jahr für Zimmerer abgeschlossen.

Nach einem Orientierungs- und Mobilitätstrai­ning für Blinde und Sehbehinderte will er zunächst die Mittlere Reife an einem speziellen Bildungszentrum absolvieren. Dass dies nichts für ihn ist, merkt er schnell. In einem Be­rufsfindungsjahr entscheidet er sich für die Ausbildung zum Masseur und medizinischen Bademeister im Blin­den- und Sehbehinderten-Zentrum in Nürnberg. Diese schließt er im Juli 2011 mit dem Staatsexsamen als be­ster männlicher Prüfling seiner Klas­se ab. Unmittelbar danach beginnt er die weiterführende Ausbildung zum Physiotherapeuten als einziger Seh­behinderter in der Bad Windsheimer Fachschule Kybalion und besteht auch das 2. Staatsexamen. Derzeit absolviert er das Anerkennungsprak­tikum in der Kiliani-Klinik und ist ab April auf Stellensuche.

Als Heizer gibt er Gas

In der schweren Zeit hilft ihm der Sport. „Ich weiß nicht mehr wieso. Aber eines Tages habe ich gesagt, heute will ich ins Fitnessstudio nach Lenkersheim laufen.“ Er schnürt sei­ne Laufschuhe und seitdem kriegt er sie fast nicht mehr ausgezogen. Im September 2007 fängt er mit dem Trainieren an und läuft im März 2008 erstmals die zehn Kilometer beim Weinturm-Lauf. Eine Stunde und zwölf Minuten braucht er – heute schafft er die Strecke in 42 Minuten.

Bei zehn Kilo­metern ist es aber nicht geblieben. Tim Kleinwächter ist auch begeister­ter Triathlet. Für alle Disziplinen braucht er einen verlässlichen Part­ner. „Wenn du nichts siehst, dann kannst du nichts erreichen, wenn du keinen guten Begleiter hast“, sagt der 24-Jährige. Manchmal läuft er seinen Begleitern auch davon und muss sich dann selbst durchkämpfen. Da verteilt er dann schon mal unab­sichtlich einen Bo­dycheck nach rechts oder links. Oder er läuft versehentlich einen Umweg. „Wenn ich Sport gemacht habe, geht es mir einfach besser“, sagt er.

2011 fährt ein Freund das erste Mal Tandem mit ihm und Tim Kleinwäch­ter entdeckt den Radsport für sich. Er übernimmt dabei die Funktion des Stokers (Heizer), sein Kumpel die des Piloten. Aufgrund seiner guten Wett­kampfergebnisse wurde er zu einem Sichtungslehrgang von Paracycling Deutschland eingeladen, dem Olym­piateam im Behindertenradsport. Er konnte sich so gut darstellen, dass er nun zu regelmäßigen Veranstaltungen und Trainingseinheiten eingeladen ist mit Aussicht, in den Deutschland­kader berufen zu werden.

In diesem Jahr ist der 24-Jährige bereits 2600 Kilometer gelaufen 10.000 Kilometer Rad gefahren und 305 Ki­lometer geschwommen. Mit der Tat­sache, dass er nie mehr richtig sehen kann, hat er sich abgefunden. 2016 will er im Tandemfahren bei den Pa­ralympics antreten. Er ist zuversicht­lich, dass er das schaffen kann, ob­wohl er weiß, dass dies ein schwerer Weg für ihn wird: „Das Leben ist ein Kampf, für manche mehr, für andere weniger und für mich eben mehr.“

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